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Gipfelgruss aus der Küche

Kulinarisch ist der Aufstieg in die Berge oft ein Abstieg in die dunkelsten Tiefkühltruhen. Die Käseschnitte ertrinkt, die Fondues kommen einem nouvelle-exotisch vor und einheimisch ist am Hirsch nur der gepfefferte Preis. Dabei liessen sich viele dieser tragischen Bergunfälle mit einfachsten Mitteln vermeiden. Etwa durch die achtsame Verwendung von Alblinsen, Lammbries, Dörrkastanien, Karpfenmilch, Taubenkopf-Leimkraut, Illzer […]

Kulinarisch ist der Aufstieg in die Berge oft ein Abstieg in die dunkelsten Tiefkühltruhen. Die Käseschnitte ertrinkt, die Fondues kommen einem nouvelle-exotisch vor und einheimisch ist am Hirsch nur der gepfefferte Preis. Dabei liessen sich viele dieser tragischen Bergunfälle mit einfachsten Mitteln vermeiden. Etwa durch die achtsame Verwendung von Alblinsen, Lammbries, Dörrkastanien, Karpfenmilch, Taubenkopf-Leimkraut, Illzer Rosenapfel, Erdbeerspinat, Flageolet, Murmeltier, Saucisse au foie, Bärlauchkapern, Lesachtaler Brot, Lionga di tartuffels, Römische Schmalzbirne, Bluatnudeln, Saiblingskaviar, Mustarda delle Valli Valdesi, Weisse Herzkirsche, Spampezi, Anisbrötli, Sura Kees und Älplerschokolade. Oft dünkt einen, man habe selten so gut gegessen wie auf einer Bergtour. Die frische Luft, das freie Herz, der gesunde Hunger. Dabei hatte man gerade die lausigste Industriewurst aus dem Rucksack gezogen, die je das Prädikat «huusgmacht» aufgelogen bekommen hat. Weisse Fettwürfel innen, Schamesröte aussen. Schmecken tut sie trotzdem, wegen der vorangegangenen Strapazen weitab jedes gedeckten Tisches. Nicht auszudenken, was mit derart geschärften Sinnen geschehen wäre, wenn man Flussbarschbottarga, Leindotteröl, Dinkelreis, Wollschwein, Castelmagno, Echter Steinklee, Schüttelbrot, Mehlbeerenbrot, Hirschbirne, Schattenmorelle, Kubebenpfeffer, Quittenpästli, Ribelmais, Teufelskrallen und Torrone aus dem Deckelfach hätte ziehen können. Ein weiteres Geheimnis, das die Berge gerne verschweigen: Die Capuns schmecken im Tal oft besser als ihre Fertigpack-Verwandten, denen nicht einmal der betörende Duft des Arvenstüblis zu Geschmack verhelfen kann. Und warum karrt man den Speck mit dem Lastwagen aus den Niederungen herbei, statt mit der Schubkarre von der Alp nebenan? Es gibt doch Milzwurst, Capra Grigia, Berner Zungenwurst, Bratblutwurst, Aromahopfen, Buchweizenhonig, Burgunder-Trüffel, Buttenmost, Linthmais, Moutard de Bénichon, Nacktgerste, Zuckerwurzel, Franzosenkraut und Zitronenbirne. Gut möglich, dass leichtes Touristengeld ein paar nicht ganz so charakterstarke Wirte die Billigware haben kultivieren lassen. Doch der Alpenraum war und ist eine berauschende Speisekammer, die Schätze birgt, die jeden in Mayonnaise ersäuften Wurstsalat erbleichen lassen. Die Äcker, Gärten, Wiesen und Wälder, die der Wanderer des Tages durchstreift, könnten ihm auch abends leuchten mit Delikatessen, denen kundige Produzenten wieder zu Tafel-Gloria verhelfen. Dominik Flammer und Sylvan Müller haben ihnen während sieben Jahren nachgespürt (eine Alpendurchquerung, bei der man gerne dabei gewesen wäre). Ihre Bücher unter dem Reihentitel «Das kulinarische Erbe der Alpen» sind Küchenklassiker geworden. Jüngst haben die beiden eine Enzyklopädie nachgelegt, die einem alphabetisch und nach Region das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Wobei der Küchen- auch ein Lesegenuss ist, so klangvoll sind die Namen und Begriffe, die aus früheren Zeiten locken. Die «Enzyklopädie der alpinen Delikatessen» ist ein Kompendium nicht nur für Profis, eine reich illustrierte Augenweide mit süffigen Photographien und obendrein ein Wegweiser zu Bezugsquellen, zu umfassenden Brot- und Guetsli-Archiven und zur Käsegeschichte in all ihren Krümeln. Wer auf seinen Wegen dieses Buch erblickt, kann beherzt einkehren. Und falls die Tagesetappe nicht an einem Ort endet, wo einem geschmackvolle Alpenküche juchzt, dann weiss man jetzt, dass sich fast alles genussreich hinunterspülen lässt. Zum Beispiel mit Bätziwasser, Abricotine, Kriecherlbrand, Absinth, Zirbengeist, Nusswasser, Lanvantaler Bananenapfelbrand, Bärwurzschnaps aus der Alpen-Mutterwurz oder dem bewährt beliebten Alpenbitter.

Dominik Flammer und Sylvan Müller: Das kulinarische Erbe der Alpen – Enzyklopädie der alpinen Delikatessen. Aarau: AT Verlag, 2014

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