Im Hasenbühl
Der in Bern und Berlin lebende Christoph Geiser wird für seinen Erzählband «Verfehlte Orte» mit einem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet. Lesen Sie hier den exklusiv für den «Literarischen Monat» aus bisher losem Stoff entworfenen Auftakt für Geisers neuen Roman.
Verrät man, als Autor, woran man grad sitzt? Einem Kollegen womöglich? Nein. Der Friz jedenfalls (nicht irgendein Fritz!) tut’s nicht. Bei unseren Hardenberger Gesprächen berichtet der Friz allenfalls von vergangenen Reisen, für die Öffentlichkeit beschriebenen, kündet bestenfalls in Andeutungen eine grad bevorstehende Reise an, ohne das Ziel zu verraten, denn, sagt der Friz, würde ich dir etwas verraten, bräuchte ich ja nichts mehr niederzuschreiben. Wir aber tun’s doch – an den hölzernen Kaffeehaustischen auf Schloss Hardenberg, ehemals Kabarett der Marineoffiziere, unter den Nazis Edelpuff, während wir auf unseren Eintopf warten, den preisgünstigsten in ganz Berlin, versichert der Friz glaubhaft, denn seine Reisen spart sich der Friz vom Mund ab – wann immer der Friz uns Gelegenheit bietet. Ein regelmässiger Regelverstoss! Ich kann doch von gar nichts anderem reden.
Ich bin kein guter Reisender. (Folglich nicht herzlos genug, schenkt man Elias Canettis Stimmen von Marrakesch Glauben.) Egal wohin die Reise geht. Selbst die Reise von Wilmersdorf nach Schloss Hardenberg wird meinen alternden Knien zunehmend beschwerlich. Doch sogar der Friz, beinahe überall auf der Welt quasi zuhaus, und leichthin, sogar schon mal ein paar Tage in Bern, ist noch nie in Weissrussland gewesen. Man wird so gegängelt dort, sagt der Friz, wie in sowjetischen Zeiten, visumsfreie Einreise nur über den Flughafen Minsk möglich, Touristenhotel vorgeschrieben… und überdies sind die weissrussischen Flugmaschinen auch nicht über jeden Zweifel erhaben; überschlug sich doch eine, lesen wir, beim Start in Eriwan ausgerechnet: Passagiere und Besatzung haben alle überlebt, heisst’s beruhigend, zum Teil schwerverletzt.
Belarus ausgerechnet, zu Lukaschenko, «besser Diktator als schwul» (konterte er den Westerwelle, Aussenminister von damals), und nicht bloss nach Minsk…
«Saizeff heisst Hase und steht an vierzehnter Stelle der häufigsten russischen Namen, so wird die Recherche nach dem Schicksal ihrer Familie, nach der Spur allenfalls Überlebender, zur Suche nach der Maus im Heuhaufen.»
Sie stammte aus Gorki, weissrussisch Horki, Departement Mogilew, wie’s im Russischen Reich hiess. Und so müsste ich im Grunde nach Horki reisen, vormals Gorki, wo ihr Koffer mit der gruseligen Geschichte, der aus Bern verschwand, wiederaufgetaucht ist, bei Vladimir Lifschitz notabene, dem ehemaligen Archivar des örtlichen Museums, der heute aber in Nazrat-Illit wohnt (das neuerdings nicht mehr so heisst) und mit dem ich nur per Übersetzungsmaschine korrespondieren kann, und die Reise von Minsk nach Gorki, lieber Friz!, in einem womöglich gemieteten Automobil!, gilt als lebensgefährlich. Die Strassen sind schlecht und die Weissrussen, lesen wir, fahren abenteuerlich! Gar nicht zu reden von den Einreiseformalitäten, Führerschein ins Weissrussische übersetzen, alle Arztrezepte ins Weissrussische übersetzen, damit der Zoll sicher sein kann, dass es sich bei den notwendigerweise mitgeführten, ja lebensnotwendigen Medikamenten nicht etwa um Opiate handelt… dieses Problem ist dir aus aller Herren Ländern vertraut, vornehmlich im ostasiatischen Raum. Rasch vor der Landung wegwerfen, das schmerzlindernde Zeug…
Nach Nazrat-Illit reisen, das heute nicht mehr so heisst, zu Vladimir, der wahrscheinlich nur Weissrussisch spricht, Belarusisch korrekt (wie die NZZ neulich monierte), Russisch als Zweitsprache, Jiddisch vielleicht und Yvrith?
Saizeff hiess sie. Saizeff heisst Hase und steht an vierzehnter Stelle der häufigsten russischen Namen, so wird die Recherche nach dem Schicksal ihrer Familie, nach der Spur allenfalls Überlebender, zur Suche nach der Maus im Heuhaufen. Vladimir aus Gorki, heute Horki, ansässig in Nazareth – «schreiben Sie Deutsch, Übersetzungsmaschine übersetzt alles» –, antwortet mir, auf meine Frage, was aus ihrer Familie geworden sei, per Mail: «Die Familie der Hasen war eine der reichsten auf der Achterbahn. Aber die Familie der Hasen hat die Achterbahn vor 1917 auf einer Rutsche verlassen.»
So liesse sich denn sagen, lieber Friz, ich sei seit geraumer Zeit mit der Suche nach der Spur der Hasen beschäftigt. Maus – A Survivor’s Tale. Du erinnerst dich an den Comic… Friz? Du erinnerst dich doch? Sind meine Hasen womöglich nach Gorki zurückgekehrt und am 7. Oktober 1941 der Erschiessung der Juden von Gorki zum Opfer gefallen? Und die Erde bewegte sich noch… Sind sie ein zweites Mal ermordet worden, durch die Enterdungsaktion, denn Knochen erzählen Geschichten und so wären sie endgültig tot, weil kein Stein blieb auf den Knochen, keine Knochen und kein Grab – nichts blieb? Asche zu Asche… Sind sie «umgesiedelt» worden, von Stalin, deportiert nach Berobidschan womöglich, dieser autonomen jüdischen Oblast im äussersten Osten Sibiriens, die ein neues Zion hätte werden sollen, ein womöglich sozialistisches, und so hätten sie überlebt und nach dem Krieg auswandern können – nach Japan? In die USA? Nach Israel womöglich? Nach Nazareth-Illit, das heute nicht mehr so heisst? Und so wäre es möglich, dass wir urplötzlich einem Nachkommen unserer Hasen gegenüberständen – Hase, der wir sind! Selbst wenn wir nicht mehr so heissen! Und nicht koscher! – einem entfernten Cousin, in Nazareth, New York, Tokio womöglich? Sind sie Stalin zum Opfer gefallen – seiner paranoiden Angst vor jüdischen Ärzten, diesem Ärztewahn?
Ja, sie war Ärztin, hatte in Bern und Lausanne Medizin studiert zwischen 1900 und 1905, und noch ihre verrückten Briefe unterschrieb sie konsequent mit Frau Dr. med. Saizeff.
Sie? Jetzt möchtest du natürlich wissen, wer sie war, warum wir an dieser ganzen verrückten Geschichte sitzen – und nicht vielmehr einfach im Kabarett oder im Puff oder im Hardenberg halt bei unserem Eintopf, bei irgendeinem Eintopf, in irgendeinem Puff – nur weil sie zufällig beim Studium unseren Grossvater kennenlernte und somit unsere Grossmutter wurde (und er unser Grossvater, ein Goj übrigens).
«So müsste ich dem Friz schreiben, was ich ihm nicht mehr erzählen kann, am Kaffeehaustisch, beim Eintopf, im Kabarett oder Puff, und das würde dann zwangsläufig eine Erzählung. Und das kriegen wir ja nicht hin, in einer Erzählung… »
Die Lage wird unübersichtlich, lieber Friz. Müsste ich dem Friz sagen. Denn ich kann ja nicht einmal mehr nach Schloss Hardenberg zurückkehren, reiseuntauglich, wie ich bin. Und nach Bern kommt uns der Friz nicht noch einmal, einmal Bern ist genug für den Friz, kein Posten mehr frei für Bern im Reisebudget, und so trifft man den Friz nur im Hardenberg, weil’s dort den billigsten Eintopf gibt. Oder in Abchasien. Weil er sich’s so abspart vom Mund. Oder in Eriwan womöglich. Die Reise von Bern nach Liestal ins Staatsarchiv war uns schon Expedition genug. So müsste ich dem Friz schreiben, was ich ihm nicht mehr erzählen kann, am Kaffeehaustisch, beim Eintopf, im Kabarett oder Puff, und das würde dann zwangsläufig eine Erzählung. Und das kriegen wir ja nicht hin, in einer Erzählung… eine Novellensammlung? Ein Roman für den Friz? Ein Epos, nur für den Friz…
Was uns von ihr blieb, bis jetzt, ausser dem Koffer, der verschwand, um den Wahnsinn aus der Familie zu tilgen – was noch einmal eine ganze Geschichte für sich wäre –, ist einzig ihr Samowar, dem aber das Herzstück fehlt, das Kännchen, das mutmasslich zerbrach.
Eine gruselige Geschichte? Nach Horki reisen deshalb, ehemals Gorki?
Hasenbühl heisst die Irrenanstalt. Als wär’s geradezu ein Grund für den Wahn (Dämonie oder Schicksal, was ja dasselbe ist). Über die Krankenakte meiner verrückten Grossmutter gebeugt – klein war sie und aufsässig, Rochle hiess sie übrigens – im Staatsarchiv, ein umfangreiches Konvolut, fragte ich mich, was mache ich nun – noch einmal einen Familienroman schreiben? Ein bürgerliches Ehedrama? Einen Mythos womöglich, Medea Material? Die Söhne entführen, im Drachenwagen heim zu Mütterchen Russland ins Schtetl – Mütterchen helfe!, schrie sie, lese ich da – oder… die Erschiessung der Juden von Gorki, die Erde bewegte sich noch, Maus – ein Comic – die Spur der Hasen? Ein Requiem für ein Massaker, Chatyn (nicht Katyn!)… abgefackelte Dörfer, verbrannte Erde, Scheiterhaufen… die Reiter der Apokalypse, Komm und sieh!, nur weil ich’s nicht ausplaudern kann am Kaffeehaustisch? So muss ich’s… erfinden! Strukturieren, ordnen, gestalten. Und nicht nur für den Friz.
Alles Erfindung! Schön wär’s.
Zu Geisers ausgezeichnetem Roman «Verfehlte Orte» (Secession, 2019):
Ein «Ich», das von sich im «Wir» erzählt – gibt es einen Ausdruck grösserer Einsamkeit? In den fünf Erzählungen aus Christoph Geisers neustem Werk finden sich Erzähler, die genau das tun: als Individuum von sich selbst als einer Mehrzahl zu sprechen.
Der Erzähler, der auf dem Friedhof San Michele verzweifelt den Ausgang sucht, um seine Blase nicht zwischen den Toten entleeren zu müssen. Der Erzähler, der sich im Anblick des verlassenen «Balkonzimmers» des Malers Adolph von Menzel verliert. Der Erzähler, der sich Zugang zur Gerichtsverhandlung zum Massenmord von Rupperswil verschaffen möchte. Sie alle sind Aussenseiter. Sie alle sind fehl am Platz, verlieren sich in Erinnerungen, Betrachtungen und Projektionen, verfehlen die Orte, die sie besuchen.
Christoph Geiser, 1949 in Basel geboren, beschreibt diese Orte mit ironischer Melancholie, spielerischer Genauigkeit, aber auch radikaler Direktheit. Das Autobiografische sei immer Ausgangspunkt seiner Literatur, meinte Geiser in einem Interview. So scheint es der Lesenden fast ein wenig so, als bilde sich das «Wir» seiner Geschichten aus dem Erzähler. Und seinem Autor. (ar)
Ein Zitat aus dem Werk:
«Eigentlich, wir wissen’s ja längst, sind wir nur noch glücklich in Museen, in Luxushotels oder am Schreibtisch. Schreibtisch im Luxushotel samt Material aus dem Museum! Ein Glücksversuch quasi.»