Jean-Marc Seiler:
«Die Eisblumenverkäuferin»
Die Zeit des Regenmachers
Hitze, schwer und erdrückend, ein ganzer «Kontinent leidet unter Atemnot». Sulzer schliesst die Fenster, schaltet den Ventilator ein und hört sich alte Geräuschplatten an. Zu hören sind Kirchenglocken und Telefontöne – bis die Gewitterakustik einsetzt und sich der lange erwartete Regen entlädt, inmitten der Wohnung. Später wird das Wasser abfliessen und der Protagonist das Haus bei gleissender Mittagshitze verlassen.
Die Erzählung «Der Regenmacher» ist geradezu prototypisch für die fabulösen Prosaminiaturen, die Jean-Marc Seiler in seinem neuen Band «Die Eisblumenverkäuferin» versammelt. Was sie feiern, ist der Musil’sche Möglichkeitssinn, die Überwindung der Realität allein mit Hilfe der Kraft der Gedanken. Unentwegt träumen sich Seilers Figuren über unbefriedigende Wirklichkeiten hinweg. Eine Insassin einer geschlossenen Anstalt stellt sich vor, wie sie des Nachts einfach in die Freiheit spaziert, ein «K» gesteht in einem Brief seine Liebe zu einer Dorfbewohnerin, bevor er im «PS» seiner eigenen «Kniefälligkeit» gewahr wird. Nur selten löst sich der Konjunktiv ein. Vielmehr belässt der 1942 in Frankreich geborene Autor das Geschehen oftmals im Nebulösen. So erhält in der titelgebenden Erzählung eine Eisblumenverkäuferin überraschend Besuch – aber weder sie noch der Fremde selbst kennt den Grund seines Erscheinens. Ist er, wie sie vermutet, der Winter, die Kälte? Es gilt: «Die Rätsel, die im Raum bleiben, beleuchten uns den Weg.» Schon bald nach diesem Satz wird sich die Dame zu Bett begeben. Der Besucher wird noch ihre Füsse zudecken – am nächsten Tag liegt die Welt in Schnee.
Man möchte sich vor diesem faszinierenden Autor verneigen und bedanken für den goldenen Schlüssel, den er uns in die Hand gibt: Mit ihm öffnen sich die mirakulösen Reiche der Fantasie, die man in einer vom Realismus erschlafften deutschsprachigen Gegenwartsliteratur vergessen geglaubt hat. Schon was und wovon Jean-Marc Seiler erzählt, ist verblüffend. Als noch erstaunlicher erweist sich seine stilistische Variationsfähigkeit. Mal wählt er eine märchenhafte Sprache, mal bedient er sich des Vokabulars von Technokraten und Bürokraten, um beispielsweise die Zwanghaftigkeit eines Charakters zum Ausdruck zu bringen. Das Groteske trifft auf das Schöne und es sprühen die Funken.
Letztlich muss jedweder Versuch, diesen Autor in eine vereinfachende Kategorie zu pressen, scheitern. Jean-Marc Seiler beweist mit jeder Geschichte erneut seine Singularität und Souveränität. Keine der Welten, die er darin erschafft, gleicht der anderen. Jeder Raum ist unerforschtes Gelände und hält den Leser dazu an, ein immer wieder neues Unbekanntes und Ungewisses zu erkunden.
Jean-Marc Seiler: Die Eisblumenverkäuferin. Münchenstein: Wolfbach, 2019.