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Heinz Helle: «Eigentlich müssten wir tanzen»

Heinz Helle:
«Eigentlich müssten wir tanzen»

 

Der Titel von Heinz Helles zweitem Roman mag klingen, als handle es sich um die Autobiographie einer Gestaltungstherapeutin, die durch Eurythmie zu sich selbst gefunden hat: heiter, entspannt. Stattdessen entpuppt sich sein apathischer Ich-Erzähler bereits auf Seite drei als Vergewaltiger. Und getanzt wird höchstens, um in der Winterkälte nicht zu verrecken.

Worum geht es? – Vier Männer, seit Jugendjahren befreundet, ziehen sich in eine Berghütte zurück, um ihren Erinnerungen nachzuhängen. Als sie die Hütte verlassen, steht das Tal in Flammen, Leichen säumen die Hauptstrasse. Nahrung gibt es kaum mehr. Die Männer schleppen sich durch Bayern, treffen auf halbverhungerte Kinder, denen sie nicht helfen, und nächtigen in aufgetauten Supermarktiefkühlräumen. Manchmal stirbt einer. Und die Verbliebenen gehen weiter, als wäre nichts geschehen.

Es geht also einmal mehr die Welt unter. Heinz Helle, Philosoph, Werber und Meister des stoischen Autorenfotos, wagt sich an ein Thema, das in Zeiten von Endzeit-Fernsehserien wie «The Walking Dead», «The 100» oder «The Kardashians» auf den ersten Blick nicht allzu originell scheint. Doch Helle verpasst dem Thema einen philosophischen Twist – und der hat es in sich! Während für Autoren wie den Pulitzer-Preisträger McCarthy («Die Strasse») das Gute im Menschen auch zu Endzeiten eine kleine Chance hat, stellt Helle die wirklich unbequemen Fragen. Zum Beispiel, was den Menschen ausmacht – und ob er ohne Zivilisation, ohne soziale Umwelt überhaupt Mensch ist. Diese Leitfrage stellen sich die Männer sogar selbst, als sie sich in einer Rückblende in der Hütte noch nichtsahnend Post-it-Zettel auf die Stirn heften. «Das Spiel hiess: Wer bin ich? Und es begann für jeden jedes Mal mit der gleichen Frage: Lebe ich noch?»

Wie menschlich ist, wer nicht-viel-mehr-als-am-Leben ist? Helle, der bereits in seinem Erstling das reduktionistische Menschenbild der Naturwissenschaften kritisierte, gibt keine erhebende Antwort. Die Männer erleben sich selbst bald nicht mehr als Menschen, sondern als «ein über mehrere Körper verteilter Wille», neben dem «kein Raum mehr für irgendetwas anderes» ist. Während sie abmagern, kommt ihnen die Sprache abhanden: «Aus Einwortsätzen werden mürrische Grunzer oder halbherzige Gesten, nach und nach treffen sich nicht mal mehr unsere Blicke.» Es zählt: das Fressen. Stehen am Anfang des Romans verkohlte Schafe und erschlagene Hunde auf dem Speiseplan, überbrücken die Protagonisten später mit dem Kauen von Rinde die Zeit zum Kannibalismus.

Nein, «Eigentlich müssten wir tanzen» ist keine leichte Lektüre. Dafür sorgt der Roman im besten aristotelischen Sinne für eine Katharsis. Am Schluss ist der Leser froh, dass die Welt, die Zivilisation um ihn herum weiter bestehen. Im angenehmen Gegensatz zur Durchschnittsapokalypsenkost, die die infantile Lust an der Zerstörung bedient, erinnert Helle daran, dass Zivilisation keineswegs ein Natur-, sondern über die gesamte Menschheitsgeschichte hinweg immer noch ein Ausnahmezustand ist – auch wenn Untergangssehnsüchte aktuell in Mode sind. Trotz dieser finsteren Thematik blitzt übrigens zuweilen Helles lakonischer Humor auf, etwa als einer der Protagonisten den Hauptvorteil der Apokalypse entdeckt: «Der Immobilienmarkt ist auf Jahrzehnte sicher vor Überhitzung.»

Heinz Helle: Eigentlich müssten wir tanzen. Berlin: Suhrkamp, 2015.

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