J. Ulrich Binggeli (Hrsg.):
«Heimweh nach Freiheit. Resonanzen auf Hermann Hesse»
Von den Hippies ob seiner Hinwendung zu fernöstlichen Religionen oder seines leuchtenden Freigeists geschätzt, in den Curricula der gymnasialen Oberstufe fest verankert, von manchen lebenslang verehrt, von anderen als solider Raconteur mit einem Hang zum Esoterischen abgetan; von Dichterkollegen geschätzt und doch keiner Gruppe zugehörend: Hermann Hesse, der zuvörderst mit Unterm Rad, Siddhartha oder dem Steppenwolf assoziiert wird, muss um seinen unangefochtenen Platz in der Literaturgeschichte kaum bangen. Gleichwohl war Hesse mehr als der angespornte Erzähler wunderbarer wie wundersamer Geschichten. Hesse war ebenso Lyriker, Zeichner, ein Weltenbummler und Weltenerforscher im allerbesten Sinne. Ein Melancholiker, Philosoph und Ironiker gleichsam, der hie und da auch den Spiessbürger raushängen liess. Im Aufzeigen dieser seiner eher unbekannten Seiten liegt eine der ganz grossen Stärken des neuen Buches von J. Ulrich Binggeli.
Auf 352 Seiten versammelt der Herausgeber unterschiedlichste Texte von und über Hesse, wobei Hesse selbst vornehmlich mit seinen weniger bekannten Erzählungen, einer Reihe von Gedichten und philosophischen Abhandlungen vertreten ist. Mit einem Text von Peter Bichsel wird der Band eröffnet. Er huldigt dem Rezensionstalent Hesses. Insofern in-teressant und ein notwendiger Beitrag, als Hesse gemeinhin weniger als Rezensent wahrgenommen wird, was angesichts seiner zahlreichen fundierten Auseinandersetzungen mit Fragen aus Literatur und Politik einer überfälligen Korrektur bedurfte.
Hesses philosophische Betrachtungen zu den Abstrakta «Eigensinn» und «Glück» bilden den Stoff für einen Beitrag des renommierten Literaturwissenschafters York-Gothart Mix. Er rät dazu, Hesses Haltung zur Romantik neu zu überdenken – in einem Essay, der einiges an Vorwissen benötigt, um ihn in seiner Gänze fassen zu können. Und hier tut sich eine kleine Delle in der sonst robusten Karosserie des Bandes auf: Einzelne Essays wie der von York-Gothart Mix oder auch jener von Wolfgang F. Kersten sind aus rein akademischer Sicht zweifelsohne exzellente Reflexionen. Inwieweit sie jedoch für ein nichtakademisches Publikum, das nicht über einen ähnlich grossen Fundus von kunst- und literarhistorischem Wissen verfügt, eine Bereicherung darstellen, sei einmal dahingestellt. Die manchmal etwas ungelenk anmutenden Parforceritte der Wissenschafter durch den Hesse-Kosmos werden glücklicherweise immer wieder durch erheiternde Geschichten von Hesse selbst oder durch solche aus der Feder anderer Dichter (darunter Friederike Mayröcker) abgelöst.
Interessant ist allemal die Konzeption des Buches (man spürt, dass der Autor Musiker ist): Sie legt Wert auf ein durchdachtes Arrangement der Beiträge. Diese korrespondieren miteinander, bilden einzelne Gedanken und Ideenblöcke. Texte, die manchmal konzise und aufs Wesentliche destillierte Miniaturen von ein oder zwei Seiten darstellen, stehen längeren Aufsätzen gegenüber. Binggeli will Hesse möglichst facettenreich, mittels möglichst verschiedener Tonlagen, nachspüren. Summa summarum ist dies gelungen, da sowohl der Hesse-Kenner als auch ein Hesse-Neuling von dem Band wird profitieren können.
J. Ulrich Binggeli (Hrsg.): Heimweh nach Freiheit. Resonanzen auf Hermann Hesse. Tübingen: Klöpfer & Meyer, 2012.