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Könige in Steigeisen

Als ob sie nicht genug zu tun hätten, ihre Gäste aus dem Seil zu entwirren, als ob sie nicht genug schleppten an der Verantwortung für Klienten, die ihre Grenzen erleben, aber gern auch überleben möchten. Bergführer buckeln obendrein ein Berufsbild, das Übermenschliches abverlangt. Und es war kein gemächlicher Aufstieg zu den Gipfeln des gesellschaftlichen Prestiges. […]

Könige in Steigeisen

Als ob sie nicht genug zu tun hätten, ihre Gäste aus dem Seil zu entwirren, als ob sie nicht genug schleppten an der Verantwortung für Klienten, die ihre Grenzen erleben, aber gern auch überleben möchten. Bergführer buckeln obendrein ein Berufsbild, das Übermenschliches abverlangt. Und es war kein gemächlicher Aufstieg zu den Gipfeln des gesellschaftlichen Prestiges. Wie Raketen schossen die Bergführer im Ansehen empor. Von den nichtsnutzigen Dorftrunkenbolden, die ihre Ortskundigkeit versilberten, zu Supermännern und Superschweizern von Kraft und Ideal. Als Ingenieure dieses Himmelfahrtskommandos können die geistige Landesverteidigung genannt werden, die Verunsicherung vor dem unaufhaltsamen Fortschritt, die national-patriotische Abgrenzung oder die nachträgliche Aneignung der Gipfelsiege durch englische und andere Ausländer in den Alpen, die doch einem selbst gehörten. Bergführer waren gut zu instrumentalisieren. Die in sie hineinprojizierten Ideale hatten abzustrahlen auf die Soldaten, die Arbeiterschaft und den Schweizer überhaupt. Führer sollten Pflichtbewusstsein, Mut, Tatkraft und Bescheidenheit verkörpern, ihre Bergwelt hatte rein, elitär und klar zu sein. In einer Zeit, in der die Städte beginnen, den Charakter zu verderben, das bürgerliche Gesellschaftsbild in Schieflage gerät und die Frauen ihre Rolle nicht mehr spielen wollen, sehen sich viele Männer verwirrt, bedroht, gefordert. Kein Wunder, standen sie am Berg. Doch selbst im verklärten Reduit konnten die Männlichkeitsrituale nicht mehr ungestört gepflegt werden. Nach vordringenden Unterländern erkämpfen sich auch erste Frauen ihren Platz am Bergführertisch. Es ist ein herrliches Panorama an historisch-soziologischen Themen, das sich im Buch von Andrea Hungerbühler auffaltet: «Könige der Alpen» ist eine akribische Untersuchung zur Kultur eines Berufes, der zwar zum Dienstleistungssektor gehört, doch mit einem Pathos versehen wurde, dass es in der Realität nur so kracht und rumort. Die Sachlichkeit, mit der die Autorin dieser Glorifizierung begegnet, wirkt wie ein wohltuendes Gegengift in einem Genre aus Alpenglühen, klarblauen Augen und heroischem Enzian. Dabei geht es nicht um Entmystifizierung. Mit ihrem umfassenden und faktenreichen Porträt ehrt Andrea Hungerbühler die Bergführer, indem sie sie ernst nimmt und in ein Licht rückt, dessen Spektrum nicht reduziert worden ist. Am spannendsten wird ihre wissenschaftliche Arbeit immer dort, wo präzise analysiert wird, wie die gesellschaftlichen Vorstellungen auf die Bergführer eingewirkt haben. Bilder und Projektionen, die auch heute noch ihr Echo finden. So lesen wir  im zweiten Teil von «Könige der Alpen», wie die interviewten Bergführer in der Schilderung ihres Berufslebens wohl unbewusst hin und her mäandern zwischen ihrer erlebten Biographie und den normativen Deutungsmustern. Wie sie Vorstellungen zwar widerlegen, aber ihnen gerne auch entsprechen, wenn sie von den Gästen mal wieder zu ihnen hochgetragen werden. Es ist diese nicht enden wollende Abfolge der inneren Widersprüche, die «Könige der Alpen» zu einem grossen Lesevergnügen machen. Wie in einem Gletscher, der erstarrt in Blöcken und eisblauen Spalten, als unverrückbare Einheit erstrahlt, kracht und splittert und grollt es auch im Innern dieses Buches. Auf dieser Tour wird heilsam gestolpert über den SAC, die Umkehrung von Herr und Diener am Berg, das Marketingbewusstsein der «Gondoliere der Alpen», die föderalistischen Strukturen der internationalen Gemeinschaft, Erziehung zur Gastfreundschaft, verräterischen Sprachgebrauch, «des Schweizerlandes Kern und Zier», das böse Unten und das gute Oben, Flucht vom Weiblichen zum Weiblichen oder Freiheitsmythos und Männerzucht. Es sollte sich gut anseilen, wer seine Klischees über dieses Eisfeld hin-überretten will.

 


 

Andrea Hungerbühler: Könige der Alpen. Zur Kultur des Bergführerberufs. Bielefeld: transcript, 2013.

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