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Lukas Bärfuss: «Hagard»

Lukas Bärfuss:
«Hagard»

 

Einfach so weglesen lässt sich dieses Buch nicht, und einfach so weglegen auch nicht. Ich habe Lukas Bärfuss’ «Hagard» mit Vorfreude gekauft, mich an den Tisch gesetzt und zu lesen angefangen, immer in Bereitschaft, vor Begeisterung hochzuspringen. Ich bin sitzen geblieben. Spricht das gegen das Buch? Es spricht gegen meine falsche Erwartung. Hagard beschäftigt mich, ich verstehe es nicht. Es scheint, als habe Philip (die Hauptfigur) zwei Gehirne im Kopf. Eines analysiert, das andere vernebelt, und hier rettet mich Bärfuss, wenn er schreibt: «Was wir verstanden haben, ist verloren.»

Ein Mann, gut situiert, gut geerdet, könnte man denken, ohne besondere Auffälligkeiten, sieht auf der Strasse eine Frau und folgt ihr. Warum? Falsche Frage! In der kurzen Zeit von zwei Tagen verliert er sich selbst und alles, zuletzt sein Leben. Ich will das nicht wahrhaben, ich möchte es nicht glauben: aber ich muss. Der Autor führt es vor, verfängliche Szenen, schillernde Figuren. Mit einem Mal frage ich: Bin ich im falschen Film? Nein, ich sitze im Theater. Bärfuss hat den Text geschrieben, führt auch Regie. UND ER IST AUCH DER BELEUCHTER. Das Licht, dieses sonderbare Licht, und die Figuren, ihr Auftritt auf der Bühne, das Absurde, das Komische, das Magische, das Unlogische, das Unstimmige, das Unglaubliche und das Nichtglaubhafte, das trotzdem eintritt, all das geschieht in diesem schrägen Buch.

Da ist ein Mann einer Frau hinterher … und verliert dabei einen Schuh. Und beschafft sich nicht neue Schuhe, sondern klaut riesige Tierpantoffeln. Einen davon zieht er an. Ist das nicht Bühne, ist das nicht eine Komödie? JA, ES IST, und raffiniert ist es auch. Denn Philip erzählt nicht selbst, ein Ich recherchiert und folgt seiner Spur im Nachhinein. Und noch ein Ich tritt auf, ein Wissenschafter. Bärfuss bringt auch sogenannte Nebenfiguren eindringlich ins Bild und erzählt ihre Geschichte: so dass man Philip aus den Augen verliert. Beim Lesen kam ich mir vor wie bei der Betrachtung eines in der Bedeutungsperspektive gemalten Gemäldes. Was wichtig ist, wird gross dargestellt. Die Frau im Hintergrund kann grösser sein als der Mann im Vordergrund. Das macht das Lesen nicht einfach.

Was will Bärfuss eigentlich, was will er mir sagen? Dreht er mir eine lange Nase? Mit seinem glasklar verwirrten Philip, an dem alles klebenbleibt und an dem sich alles bricht, der selbst zerbricht. Ist das Ganze ein Albtraum, ein Hirngespinst? Jagt dieser Philip gar nicht einer (beliebigen) Frau hinterher, einer Fremden, die nichts davon weiss (und er hat noch nicht einmal ihr Gesicht gesehen)? Genau, da ist gar keine Frau: Die Frau ist ein Phantom. Sie ist der Irrsinn in seinem Kopf, der ausbricht wie ein tödliches Fieber.

Ich könnte am Text nachweisen, dass «Hagard» ein gelungenes Buch ist. Und ich könnte am Text nachweisen, dass «Hagard» ein misslungenes Buch ist. Doch ich will das nicht tun. Warum nicht? Beides hat mit dem abenteuerlichen Risiko zu tun, das Bärfuss immer wieder eingeht: Als Erzähler geht er auf dem Hochseil. Und ohne diese Risikobereitschaft hätte sein Buch weniger Glanzpunkte und weniger Abstürze. Zum Glück ist «Hagard» ein Buch, das zu lesen nicht nur Spass macht. Ein Buch, das einem manchmal den Verdacht nahelegt, selbst im eigenen Kopf könnte mehr als ein Gehirn ticken. Ein Text, der auch eine Knacknuss ist. Kein Pageturner. Doch geeignet für Leser, die bereit sind, sich für 173 Seiten so viel Zeit zu nehmen wie üblicherweise für ein Buch mit dem doppelten Umfang.

Lukas Bärfuss: Hagard. Göttingen: Wallstein, 2017.

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