Nichts als Wasser und Horizont
Buch des Monats
Die Wahrscheinlichkeit, vom Blitz getroffen zu werden, ist extrem gering. Die Chance, einen Blitzschlag zu überleben, dagegen hoch: nur jeder Zehnte stirbt daran. Blitzschlag setzt den menschlichen Körper allerdings auch dann nicht selten für Stunden ausser Gefecht, der spinale Schock, der die Funktion des Rückenmarks mindestens kurzfristig unterbindet, zieht dann nicht selten Lähmungen der Arme und Beine nach sich. Die Langzeitfolgen sind zahllos – körperlich wie psychisch.
In Cynan Jones’ neuer Novelle «Cove» werden diese Folgen durchdekliniert, dramatisch potenziert durch den Schauplatz offene See. Der namenlose Protagonist des knapp 100seitigen Bändchens ist gerade im Begriff, die Asche seines kürzlich gestorbenen Vaters von seinem Boot aus zu verstreuen, dann: sich kräuselndes Wasser, schwarz. Als er Stunden oder Tage später wieder zu Bewusstsein kommt, weiss er nicht mehr, wer er ist, noch was er in dieser Nussschale zu suchen hat. Gelähmt und gezeichnet, einen feinen Aschepelz auf der Haut, stellt er fest, dass er einen Arm nicht bewegen kann, der andere – über die Bootswand hängend – offenbar von Fischen angenagt wurde und er sich liegend jedwede Motorik erst wieder beibringen muss. Dann, irgendwann, beim ersten Blick über den Bootsrand: nur Wasser und Horizont. Jammernd und zitternd muss er feststellen, dass er selbst bei voller Verfügbarkeit aller körperlichen Kräfte nichts zur Verbesserung seiner Situation beitragen könnte: das Paddel ist verschwunden, das Boot treibt ziellos, wird erst von den Wellen und dann von allerhand Seegetier herumgeworfen.
Schon frühere Bücher des walisischen Autors zeichneten sich durch ihre kraftvolle Reduktion aufs Elementare aus: hier sind Schmerzen fast physisch spürbar, das sie konservierende Salz kann man schmecken, das Sein bestimmt das Bewusstsein. Jede Handbewegung wird zum Ausdauertraining, das Verrichten des kleinen Geschäfts über die Bordwand hinweg zum Erfolgsereignis. Die schockbedingten Lähmungen des Geistes ihrerseits werden reflektiert durch die Simplizität der wenigen geschilderten Bewusstseinseindrücke, die auch immer wieder Fragment bleiben. Und da der Leser zu Beginn nicht mehr über den Gezeichneten weiss als der Verlustige selbst, wird vor dem Hintergrund eines sich abzeichnenden Überlebenskampfes bald noch eine zweite Geschichte erzählt: «Pick salad x», steht auf einem Zettel, den er findet. Wenn alle Gewissheit verloren ist, kann ein Post-it vom heimischen Esstisch zum alles entscheidenden Überlebensmotiv werden. Die bald zum Papierfetzen zersetzte Notiz wird für den Überlebenden das, was «Wilson» für Tom Hanks in «Cast Away» war: Überlebensmotiv. Geschickt lässt Cynan Jones Leser wie Überlebenden mutmassen, was letzteren hierhergeführt hat. Das beginnt als mühsamer Kampf, wird dann rasch zu einem spannenden Psychogramm eines Mannes, der stumm bleibt, aber nach und nach doch eine Art innere Stimme entwickelt, in der er sich selbst Mut zuspricht, das Sein dem Bewusstsein unterordnet. Anhand einiger Gegenstände, die der Einarmige im Boot findet – etwas Wasser, ein Bier, Angelausrüstung, eine kleine Pfanne, eine Notdecke, sein funktionsuntüchtiges Handy (in dessen Innerem ein Talisman versteckt ist) –, rekonstruiert er immer mehr Teile der eigenen Geschichte, schafft es so, sich auch mental über Wasser zu halten. Und als er die nächste Nacht übersteht, hat sich der Horizont sogar verändert: Land. Die Pfanne wird zum Paddel, vorbeitreibender Plastikmüll zum Segel, und weiter hinten, wir wissen es schon, er aber noch nicht, zieht ein Sturm auf.
«Cove» ist der Lyrik häufig näher als der Prosa. In aller Kürze und Härte treibt Cynan Jones die Geschichte voran, auch wenn sie scheinbar stillzustehen scheint, der Plot ja eigentlich längst erzählt ist, sein Ausgang feucht und kalt. Dieser eindrückliche Überlebenskampf, der ja viele geschwätzige Vorbilder in der Literaturgeschichte hat, wird so zum literarischen Ereignis dieses Herbsts.
Michael Wiederstein
ist Chefredaktor dieser Zeitschrift.
Buch:
Cynan Jones: Cove. London: Granta, 2016.