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Reinhild Solf: «Huhn Trudchen»

Reinhild Solf: «Huhn Trudchen»

Panta rhei im Hühnerstall

 

Schon sein Titel verführt dazu, diesen Roman als nicht ganz ernst gemeinte Kindergeschichte zu unterschätzen. Dass das handelnde Personal aus sprechenden Tieren besteht, hat zunächst eine ähnliche Wirkung. Aber Reinhild Solfs «Huhn Trudchen» ist auch eine Reflexion der Veränderung – und ein Hinweis, dass der Sinn des Werdens wohl nur im Werden selbst gefunden werden kann.

Die sprechenden Tiere leben frei von menschlichem Einfluss in einer Art paganer Friedensutopie, in der ein göttliches Gesetz Glaubensfreiheit und Gewaltlosigkeit garantiert. Ihr Friede wird jedoch vom angrenzenden Land der Blutspeienden Heiligen Tücher bedroht, einer aggressiven Theokratie, deren Rabenarmee nur darauf wartet, über die freie Welt herzufallen. Die Heldin, Huhn Trudchen, ist anscheinend von den Göttern auserwählt, dieses Schicksal abzuwenden. Dazu befähigt sie vor allem ihr übertierisch lauter Träller, mit dem sie auch mal einen Fels beiseiteschreien kann. Wie in Heldengeschichten üblich, wird Trudchen unvorhergesehen aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen, begegnet dann einem Mentor, hier dem schwulen Fuchs Johannes, und muss sich in verschiedenen Reifeprüfungen beweisen. Anders als in klassischen Heldengeschichten gipfelt diese Entwicklung nicht darin, den vorherbestimmten Auftrag unter grossen Mühen zu erfüllen: Als Trudchen die zerstörerische Macht ihres Trällers begreift, stellt sie sich gegen ihr Schicksal als blosses göttliches Werkzeug und tritt so aus ihrer mythischen Unmündigkeit heraus. Wie aus Sympathie für so viel aufklärerischen Mut greift nun in Gestalt sprechender Gleichungen die Grand Unified Theory ein, die nach eigenen Angaben Gott = O setzen will. Zwei Zeitreisen später hat Trudchen endlich Zeit, einen Fasan auszubrüten, in dessen erwachsene Variante sie sich während einer Reise in die Zukunft verliebt hat. Und ich kann mir überlegen, wie ich diese Wendungen zu einem sinnvollen Ganzen zusammensetzen soll.

Hat Trudchen den göttlichen Auftrag nun erfüllt oder nicht? Haben die Götter oder die Aufklärung gewonnen? War das jetzt ein Plädoyer, auf das eigene Gewissen zu hören? Hat man sich einmal damit abgefunden, dass es den Punkt, auf den all die lustigen Episoden zulaufen und der ihnen schlagartig Sinn verleiht, nicht gibt, kann man entspannt dabei zusehen, wie die Erzählerin grosse und kleine Probleme kunstvoll aufbaut, meist gleich wieder löst und durch neue ersetzt. In der literarischen Welt, die Reinhild Solf erschafft, geschehen die Dinge um ihrer selbst willen. Alles ist magisch, alles ist im Fluss – und damit prinzipiell offen. Regeln, die unbedingt gelten, sucht man vergeblich, nicht einmal die Pläne der Götter müssen aufgehen. Wohin die einzelnen Handlungsstränge letztendlich führen, ist oft gar nicht so wichtig. Die Veränderungen und Metamorphosen sind sich selbst genug. Lustig ist es noch dazu. So entfaltet sich eine Poetik des ewigen Fliessens – sozusagen Heraklit wie für Kinder in einer Geschichte wie für Kinder, wie Erwachsene sie trotzdem lesen sollten.


Reinhild Solf: Huhn Trudchen.Zürich: bilgerverlag, 2019.

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