Angelika Overath:
«Fliessendes Land»
In der Tat ist das ein sehr persönliches Buch. Und nicht nur ein persönliches, wie angekündet, sondern auch ein mutiges Buch. Wer gesteht schon freiwillig und freimütig seine kontinuierlichen Seitensprünge? Allerdings, das sei präzisiert: Seitensprünge mit Wörtern, mit Figuren. Denn Angelika Overath interpretiert das Schreiben als das Zusammenleben von Autor und Text auf Zeit. Diese Beziehung hält so lange, bis der Text den Autor verlässt, dann steht dieser (wieder einmal) vor dem Nichts und «stirbt einen seiner sieben Katzentode».
In ihrem neuen Buch Fliessendes Land ist viel vom Weggehen die Rede, vom Verlassen von Menschen, von Orten und von Lebensabschnitten. Und so sind denn die zumeist kurzen Texte geprägt von Übergängen und von Beobachtungen im Unterwegssein. Angelika Overaths Blick heftet sich auf die kleinen Dinge, auf alltägliche Begebenheiten, aber in ihrer intuitiv feinsinnigen Wahrnehmung werden sie gewichtig und bedeutungsvoll. Dass sie sich an Bushaltestellen nie langweilt, glaubt man ihr also aufs Wort. Dass sie danach, im begrenzten Raum des Fahrzeugs, ihr Schauen und Phantasieren weitertreibt, liegt ebenso auf der Hand. So sieht sie – wie es früher in ihrer Stadt war – in einer Budapester Strassenbahn die Frauen auf den hell lackierten Holzbänken sitzen. Mit beiden Händen halten sie, auf ihren geschlossenen Knien, ihre Handtaschen fest, «als drückten sie ein Siegel auf ihren Schoss, als schützten sie ihr Geschlecht».
Schreiben und Kinder sind für Angelika Overath keine Gegenwelten. Sie sind «ein osmotisches System». Im Unterengadin, wo sie seit einigen Jahren mit ihrer Familie lebt, freut sie sich, wie sie sagt, jeden Tag auf das Familienmittagessen, das ihre Arbeit stört. «Schreiben entwurzelt, muss entwurzeln, und Kinder erden. Sie können erden.» Dieses Prinzip hält ihre Texte aufs schönste im Gleichgewicht. Heben die Sätze ab vom erdigen Boden und ist die Sprungkraft noch so gross, fallen sie doch immer wieder zurück auf den sicheren Grund. Wenn der Sommer «käuflich» geworden ist, wenn die Mutter zum «braunen Fisch» mutiert, wenn die nackten Füsse des Kindes wie «kleine Tiere» festgehalten werden oder die Gedanken beim Betrachten von van Goghs Holzstuhl mit der geflochtenen Sitzfläche und den leicht krummen Beinen ausschweifen – am Ende fügen sich die Texte in geordnete (geerdete) Bahnen.
Verlassen die Texte die Autorin, gehören sie uns Lesern. Und sie, Overath, steht mit leeren Händen – mit leerem Herzen da. Bis sie sich einen Neuen (Text) sucht. Bis sie wieder unterwegs ist – an ihrem Schreibtisch, zu anderen Menschen und Orten. Mit wachen Augen, mit geschärftem Blick, neugierig und liebevoll.
Angelika Overath: Fliessendes Land. München: Luchterhand, 2012.