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Sibylle Berg: «Vielen Dank für das Leben»

Sibylle Berg:
«Vielen Dank für das Leben»

 

Auf Parzival war ich stolz. Ein Vergleich mit einer prägnanten Figur ist illustrativ und zeigt die Fortsetzung einer Erzähltradition. Nebenbei verleiht es dem eigenen Urteil auch mehr Überzeugungskraft. Parzival also, das klingt wuchtig, wichtig, wissend. Nur leider ist Parzival schon weg. Anders gesagt, es ist nicht einfach, über ein Buch zu reden, das die Presse so intensiv beschäftigt wie Sibylle Bergs aktueller Roman Vielen Dank für das Leben. Parzivals unbekümmerte Einfalt spiegelt sich in Bergs treuherzig-schlichter Hauptfigur namens Toto. Meint leider auch der Spiegel. Schade drum.

Also der zweite grundgute Held der sancta simplicitas: Forrest Gump. Seine offene Wertschätzung gegenüber allen Menschen erinnert an Totos gütige Grundhaltung. Meint auch die FAZ. Schade drum. Bleibt nur die ganz grosse Trommel zu schlagen, sprich: den Vergleich mit Buddha zu wählen. Gross und aufgedunsen, von allem entfernt und dennoch mitfühlend scheint Toto eine höhere Form der inneren Ruhe, sein Nirwana, gefunden zu haben. Was natürlich völliger Unsinn ist. Meint auch Sibylle Berg im Interview mit der ZEIT. Schade drum. Was bleibt, ist Toto als… – Toto!

Ins Leben geworfen in einer Szene, die an Grenouille aus Süskinds Parfum erinnert – stand bestimmt auch schon in der Tagespresse –, wird hier aber nicht das Genie entbunden, sondern die Kuriosität. Toto ist das, was der Name ausdrückt: alles. Ein Hermaphrodit, Mann und Frau. Was kurz nach der
Geburt chirurgisch korrigiert wird, bleibt Toto erhalten, die alkoholkranke Mutter will nur schnell aus der Klinik, sie hat keine Zeit für Operationen. Toto entwickelt sich zum weiblich-weichen Leidensmann im unförmigen Körper. Toto erlebt alles, erduldet alles, hat Talente, die niemand fördert, und Ansichten, die keinen interessieren. Berg schickt Toto durch die sarkastisch geschilderte, niederschmetternd asoziale Geschichte der letzten fünfzig Jahre und weiter hinaus bis ins Jahr 2030, immer mit wütendem Blick auf die Krötenpfuhle, in denen sich die Menschheit suhlt. Es geht nicht um grosse Politik – Toto verpasst sogar die Maueröffnung 1989 und hat an 09/11 keine Lust zum Fernsehen –, es geht um die herzlosen, brutalen, selbstsüchtigen Menschen in den grauen Löchern, die sie Wohnungen nennen, oder in ihren schikanösen Arbeitsstätten, wo sie nach oben katzbuckeln und nach unten auskeilen. Es geht um das zwanghafte Bedürfnis, anderen die Schuld zu geben für das Elend des eigenen miserablen Lebens, für die Misserfolge eines mässigen Intellekts, für dreckige Fingernägel, gestiegene Benzinpreise und bedrohliche Cholesterinwerte. In der von Neid und Gier zerrissenen Welt ist Toto der Punching-Ball für alle Formen von Aggressivität, das Voodoo-Püppchen, der Prügelknabe. Toto fordert nicht, strebt nicht, giert nicht. Antiheld Toto lebt das Leben, wie es kommt, und akzeptiert das Schicksal duldsam, genügsam und zäh.

Das wird auf Dauer allerdings langatmig. Berg mutet Toto übermenschliche, unglaubwürdige Leiden zu, die ganze Ethnien ausrotten könnten und in ihrer Menge eher abstumpfen denn wachrütteln. Nebenher drischt Berg in bitterem Tonfall auf alles und jeden ein, was auf Dauer übrigens auch an Schwung verliert. Beides ermüdet nicht, beides zerreisst nicht den roten Faden, aber es führt zu einem hochtourigen Lamento: Es wird hart – Toto kommt durch – es wird hart – Toto kommt durch – es wird hart… Diese Monotonie des Niederknüppelns wird gelegentlich aufgebrochen durch gelungene Slapstick-Elemente, wenn beispielsweise ein übereifriger Rechtsanwalt anruft und Toto bei weiterer Benutzung des Vornamens mit Schadenersatzklagen im Interesse der gleichnamigen kalifornischen Tanzkapelle (Rosanna, Hold the Line, Africa) droht. Es darf gelacht werden, aber eine Erlösung gibt es nicht. Vielen Dank für das Leben ist für Toto wie für den Leser eine Sisyphusarbeit, ein Fortkommen gibt es nicht. Hoffnungslosigkeit wird in allen Facetten durchgespielt, selbst die Liebe ist keine Himmelsmacht – hier irrte also Friedrich Schiller –, sondern nur ein flüchtiges Gefühl. Das ist selten lustig, überwiegend tragisch, überlang, überfrachtet und dennoch überaus lesenswert: ein wütendes Pamphlet gegen die Menschen und für das Leben.

Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben. München: Hanser, 2012.

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