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Die Kunst der Kunstlosigkeit

Zum Status zeitgenössischer Trend- und Trashliteratur.

Die Autorin Kathrin Passig bekam 2006 den Ingeborg-Bachmann-Preis zugesprochen – von einer mehrheitlich begeisterten Jury, die sich freilich in der Folge düpiert, wenn nicht gar getäuscht vorkommen musste, als bekannt wurde, dass der prämierte Text ein Fake war, eine Art Blockbuster, aus lauter vorgegebenen Versatzstücken eigens hergestellt, um den vorab berechenbaren Kriterien der Preisrichter zu entsprechen und sie gleichzeitig zu unterlaufen.

Die hochdotierte Auszeichnung war vergeben worden für eine Erzählung, deren gewollte künstlerische Mediokrität die damals bestehenden Erwartungen offenbar weitgehend erfüllte: ein belletristisches Event-Movie, angereichert mit ein wenig kriminalistischer Spannung, ein wenig Zeitkritik, ein wenig Horror, ein wenig Kitsch usf. − Dass die Autorin in Klagenfurt ausser dem Hauptpreis der Jury auch den Publikumspreis erhielt, macht deutlich, wie weitgehend die professionelle Literaturkritik (ausgewiesen durch die «Bestenliste») mit dem laienhaften Geschmacksurteil der lesenden Mehrheit (belegt durch die «Bestsellerliste») neuerdings übereinstimmt.

Mehr als zehn Jahre sind seit Passigs entlarvendem Happening vergangen. Die Laienherrschaft des Publikums hat derweil an Einfluss gewonnen, das Qualitätsfeuilleton hat sich diesem Einfluss bereitwillig geöffnet, und die Literaturproduzenten liefern vorzugsweise die Ware, die mehrheitlich gefragt ist, also saisonale Trendprodukte ohne jede künstlerische Nachhaltigkeit, Bücher, die binnen eines Halbjahrs «funktionieren» beziehungsweise sich auszahlen müssen, weil sie andernfalls sofort zu Makulatur werden. Literarische Verlage setzen nicht mehr auf attraktive Backlists, vielmehr auf üppig ausgestattete Vorschaukataloge mit Werbetexten, die sich auch für Kosmetika oder Kreuzfahrten oder IT-Produkte einsetzen liessen. Die einst sogenannte schöne Literatur ist zu einem populistischen Grossunternehmen geworden, das sich so gut wie ausschliesslich an quantitativen Kriterien wie Auflagenhöhe, Verkaufsranking, Leser-Likes usf. orientiert, künstlerisch anspruchsvollere Texte aber in aller Regel als «elitär», «abgehoben», «weltfremd» aussen vor lässt, dies mit dem stetig wiederkehrenden Vorwurf, «unnötig kompliziert» und deshalb «schwer verständlich» zu sein. Wobei vergessen wird, dass das Textverstehen primär eine Sache des Wollens, nicht des Könnens ist, vergessen auch, dass «schwierige» Texte den Leser, die Leserin keineswegs abschrecken, sondern umgekehrt gewinnen sollen. Denn nur wo eine Verstehensleistung zu erbringen ist, kann Interesse aufkommen, und nur wer gefordert wird, darf sich ernst genommen fühlen. Doch eben dies scheint gegenwärtig ausser Kurs zu sein.

Hoch im Kurs: leicht Konsumierbares

Weithin angeboten, gern besprochen und vorzugsweise ausgezeichnet werden leicht konsumierbare Lesestoffe, die sich in Form von mehr oder minder kohärenten Familien-, Kindheits-, Krankheits-, Liebes-, Kriegs-, Reise-, Flucht- oder Suchtgeschichten darbieten − Geschichten, die bei all ihrer Variabilität und trotz ihrer zumeist subjektiven Prägung weitgehend voraussehbar sind und deren Lektüre nicht viel mehr zu bieten vermag als das, was man ohnehin schon verstanden hat.

Zu solch vorauseilendem Verstehen trägt naturgemäss der Umstand bei, dass derartige Erzähltexte seit vielen Jahren en gros auf den Markt kommen und sich wechselseitig − thematisch wie sprachlich − immer ähnlicher werden. Wenn heute hochgelobte Autoren wie Elena Ferrante oder Karl Ove Knausgård ein internationales Millionenpublikum erreichen, hat das eben damit zu tun, dass es ihnen gelingt, aus angeblich persönlicher Erfahrung in epischer Breite und privatem Plauderton ein quasirealistisches Welt- und Lebensbild zu entfalten, das alle stofflichen Elemente zwischen Sex und Gott, aber auch alle Gefühlsanwandlungen zwischen Zorn, Leidenschaft, Melancholie, Zärtlichkeit, Ergebenheit und Revolte in bekömmlicher Mischung synthetisiert.

Diese belletristische Gemengelage − von allem etwas, für jeden etwas − wird heute von den meisten Autoren angestrebt und von vielen auch erfolgreich bewerkstelligt. Literaturinstitute und Schreibwerkstätten tragen dazu das ihre bei, indem sie die Auswahl und Aufarbeitung entsprechender Stoffe wie auch deren erzählerische Inszenierung unterstützen. Eingeübt wird dabei ein unaufwendiger Zeitstil, den man auch aus Reportagen oder Homestorys kennt, wohingegen die Entwicklung eines originären und singulären Personalstils keinerlei Priorität mehr hat. Die Literatur verliert eben damit ihre künstlerische Dimension, wird mehr und mehr zu einem Medium blosser Informationsübermittlung und flauer Unterhaltung.

Man muss solche Literatur nicht für trivial oder minderwertig halten, man kann sie aber auch nicht als Kunst gelten lassen. Tatsache ist, dass diese dominant auftretende Trendbelletristik den Anspruch hat (und vom Feuilleton die Lizenz dazu erhält), bei all ihren formalen Defiziten künstlerisch relevant zu sein − was sich dutzend-, hundertfach durch lobende Besprechungen und ehrenvolle Auszeichnungen belegen lässt. Solches Lob wird allerdings bisweilen durch die Autoren selbst relativiert, etwa dann, wenn Natascha Wodin selbstgewiss verlauten lässt, sie habe für ihr mehrfach prämiertes Erzählwerk «Sie kam aus Mariupol» (Rowohlt, 2017) ausschliesslich dokumentarisches Material verarbeitet, um jeden «literarischen» beziehungsweise «künstlerischen» Anstrich zu vermeiden. Ein Gleiches bekennt Arno Geiger, der in seinem jüngsten Erfolgsroman «Unter der Drachenwand» (Carl Hanser, 2018) gemäss einer gewichtigen Kritikerstimme «einfühlsam die Gemütslage am Ende des Zweiten Weltkrieges rekonstruiert»: Geiger will nach eigenem Bekunden lediglich das Privatarchiv seines realen Protagonisten beschrieben und kommentiert haben, ohne auf künstlerische Wirkung besonders bedacht gewesen zu sein. Somit kann eine einfühlsam aus Dokumenten «rekonstruierte» und allein deshalb als «wahr» geltende Geschichte neuerdings problemlos der Erzählkunst zugeordnet werden.

Dass diese allzu schlichte, aber weit verbreitete Literaturauffassung bisweilen auch konterkariert wird, bezeugt der rare Einzelfall des Romanautors Reinhard Jirgl, den einst «Die Zeit» als «ausserirdisch ambitionierten» Sonderling qualifizierte und der sich nun selbst mit einer Grundsatzerklärung aus dem deutschen Literaturbetrieb ausgeschlossen hat, weil er nicht mehr dem Betrieb, sondern einzig der Literatur und ihrem Kunstanspruch dienstbar sein wolle − ein wütender Protestakt, der weithin unbeachtet blieb und vermutlich allein für den Autor Konsequenzen haben wird: Jirgl will künftig nur noch in die Schublade schreiben.

Trivialdichtung: noch nicht einmal Antikunst

Nicht so die zahlreichen, oft auch erfolgreichen Vertreter einer angeblich avancierten, in Wirklichkeit unbedarften, bewusst defizitären und fehlerhaften Trivialdichtung, die sich vorab im Netz und bei Liveauftritten stark zu machen versucht. Die Unterscheidung von U- und E-, von «unterhaltender» Trend- und «ernster» Kunstliteratur scheint hier nicht mehr produktiv zu sein; sie ist wohl auch gar nicht mehr opportun, da die Literaturschaffenden selbst an der Grenzverwischung interessiert sind und dafür auch bereits die passenden Techniken entwickelt haben. Diverse Internetforen und literarische Blogs, Lesungen und Workshops auf YouTube lassen erkennen, dass sich ausserhalb des dominanten, von Publikumsverlagen und vom traditionellen Feuilleton mitgetragenen Literaturbetriebs eine weithin vernetzte Interessengemeinschaft junger Autoren etabliert hat, denen an Spass und Nonsense weit mehr gelegen ist als an literarischer Qualität.

Solche Autoren, solche Autorinnen wollen nicht mehr als «innovativ» gelten, statt Originalität und Unverwechselbarkeit streben sie explizit eine unkreative Kunst und Methode an − für sie genügt es, bei Gleichgesinnten «anzukommen». Das Urteil von Literaturpäpsten, autoritativen Juroren und willfährigen Rezensenten ist ihnen offenkundig egal. Da gibt es denn auch keine rote Linie mehr zwischen U- und E-, vielmehr wird hier das U zum E gemacht, das E ins U verkehrt: Literatur verliert ihren Kunstcharakter, wird aber nicht, wie einst bei der nun schon «klassischen» Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts, als Antikunst praktiziert, sondern lässig, bisweilen betont nachlässig als Nichtkunst vorgeführt − ein Gestus, den schon vor einem halben Jahrhundert Andy Warhol mit seinem Trash-Roman «a» vorgezeichnet hat und der nun offenbar, faute de mieux, reaktiviert werden soll. Zu den Protagonisten des Trends zählen in Deutschland diverse Rap-Poeten, aber auch angeblich «dissidente» beziehungsweise «exzentrische» Dichterpersönlichkeiten wie Mara Genschel oder Ann Cotten, die nach eigenem Bekunden «Dichtung» eigentlich «Scheisse» finden und dennoch unentwegt «dichterisch» tätig sind.

Mit Kritik ist dieser Spielart von Literatur nicht beizukommen: Da sie sich auf literarische Kriterien gar nicht erst einlässt, kann sie kritische Annäherungen leicht abweisen oder sie für irrelevant erklären. Und weil derartige Kriterien auch für die gängige Literaturberichtserstattung nicht mehr verbindlich sind, ist man auch kaum verwundert darüber, wie rasch und widerstandslos nun die gewollt unoriginelle, formschwache und inhaltsleere Trash-Poetry selbst vom sogenannten Qualitätsfeuilleton rezipiert wird.

Doch rezipiert (vereinnahmt) wird ja ohnehin alles, dem Zugriff, den Übergriffen des Betriebs widersteht auch diese arme jüngste Dichtung nicht, die sich auf das Labern, das Pöbeln, das Kopieren, das Durchstreichen, das Einklammern, das Schlecht- und das Falschschreiben kapriziert: Schreiben als autopoetisches Recycling von vorgefundenem Sprachmüll1. Plausible Wiederverwendungsmöglichkeiten dafür gibt es nicht. Man wird den Trash-Trend sicher in Bälde für eine Schund- und Kitschpoetik vereinnahmen und ihn damit erst recht als die harmlose Modeerscheinung beglaubigen, die er bis auf weiteres noch ist.

Unbedarfter Realismus     

Gewiss, Literatur kann und darf fast alles. Aber sie braucht nicht alles aufs Mal in gefälliger, zumindest selbstgefälliger Manier zu liefern. Wenn heutzutage Berichterstattungs- und Selbsterlebensprosa im Verein mit Plauderlyrik die belletristische Produktion dominieren, ist das ein schlichtes literaturbetriebliches Faktum, das hingenommen werden muss − man mag es begrüssen, kann es aber auch bedauern. So bald wird sich daran voraussichtlich nichts ändern. Die Tendenz zu einem faktographischen, thematisch vielfältigen, formal eher unbedarften Realismus dürfte sich verstärken, während gleichzeitig die künstlerisch ambitionierte oder gar experimentell angelegte Literatur zunehmend zurückgedrängt wird. Auch solche Literatur ist, wohlverstanden, nicht durchweg gute und schöne Literatur, doch zumindest der Intention nach gehört sie dem Bereich der Künste an.

Was sich mehr denn je aufdrängt, ist daher die klare Unterscheidung zwischen den beiden gegensätzlichen Auffassungen: marktkonforme Erfahrungs- und Befindlichkeitsbelletristik beherrscht den aktuellen Literaturbetrieb, obwohl sie künstlerischen Kriterien mehrheitlich nicht gerecht wird. Kunstliteratur wiederum kann sich, über die Aktualität hinaus, nur dann behaupten, wenn sie die Vorgaben und Ansprüche des Betriebs konsequent ignoriert. Gut möglich, dass ihr künftiger Wirkungsraum tatsächlich auf die Schublade (oder den Memostick) beschränkt bleibt − noch immer der sicherste Ort für das Überdauern starker, eigenständiger, zeitlos gültiger Literatur.


Felix Philipp Ingold
lebt als freier Schriftsteller und Publizist in Romainmôtier; zu seinen jüngsten Veröffentlichungen gehören der Prosaband «Direkte Rede» (Passagen, 2016) und das Gedichtbuch «Das Gegenteil von allem; und von noch viel mehr» (Moloko Print, 2018).


1 Derweil muss man sich (soll man sich?) mit Plauderversen wie diesen begnügen: «Maurer reden, / um handelseinig zu werden. / Die Erste, die kommt, / um ihrem Liebsten / das Essen zu bringen, / wird mit Haut und Haaren / dem Mörtel beigemischt.» (O. Kalász) − Oder: «I’m small talk diner / kleineren Constellation / fuel das Wort ‹poets life›.» Oder auch: «Aber warum muss ich immer / wieder so hart und ernsthaft / zusammenbrechen?» (M. Genschel) Und noch (und noch): «Sei das Unkraut, sei Graffiti, überwuchere und überzieh. / Sei das, was Rest wird; sei der Anfang, der schon angefangen hat.» (T. Krämer) Und schliesslich: «tragfähig einen goliath eine fluchtphantasie einen / archetyp einen stallmeister des kopflosen pegasus / verzicht auf hinweise. alles sehr realitätsbezogen.» − Das sind, selbstredend, lediglich Fragmente, als solche freilich durchaus repräsentativ für die poetische Trash-Rede dieser Tage: Die Fragmente liessen sich beliebig zu einer Endlosschlaufe zusammenschneiden und ergäben insgesamt so etwas wie einen kollektiven selbstorganisierenden Monolog.

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Illustration: Corinne Mock.
Verlogenes Pack

Trash ist uninteressant. Interessant ist das Gespräch darüber: denn es dreht sich stets um die kulturelle Distinktion zum Höheren über die Kenntnis des Niederen. Aber warum eigentlich? Ein Versuch.

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