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Hauptsache Ruhe

Sieben literarische Rückzugsorte in der Schweiz.

Hauptsache Ruhe

 

Carrouge VD
Gustave Roud 

Gustave Roud war elf Jahre alt, als er 1908 mit seinen Eltern nach Carrouge im waadtländischen Haut-Jorat zog, auf einen Bauernhof, den die Familie vom ­Grossvater geerbt hatte. Hier, auf gut 700 Metern über Meer, lebte er fortan bis zu seinem Tod 1977 mit seiner Schwester Madeleine. Und er hat offenbar nichts vermisst: Roud, der als einer der grössten Dichter der französischen Schweiz gilt, widmete seine gesamte Lyrik einem einzigen Thema – den Juralandschaften des Haut-Jorat. Ausser der Fotografie – Objekt war «natürlich» wiederum die Landschaft der Umgebung – hatte er keine Hobbys, Freundschaften pflegte er in erster Linie brieflich; ein umfangreicher Nachlass zeugt davon.

Château de Lavigny VD
Heinrich Maria Ledig-Rowohlt

Wo einst Camus, Miller und Nabokov den rororo-Grossverleger auf seinem Alterssitz besuchten, residieren auch nach dem Tod des Hausherrn Schreibende aus der ganzen Welt für eine begrenzte Zeit: Seit 1996 bietet das Schloss fünf Dramaturgen, Drehbuchautorinnen, Essayistinnen, Lyrikern, Übersetzerinnen und auch einfach «Autoren» gleichzeitig Platz. Einmal im Monat ist «Salon littéraire» vor Publikum.

Abbaye du Châble, Val de Bagnes VS
Maurice Chappaz

Maurice Chappaz war immer am liebsten in den Bergen von denen er nur herabstieg, um den Mächtigen in Sitten den Marsch zu blasen. Nächtelang durchwanderte er seine ­Walliser Alpen. Hier, in einer Dépendance des Klosters Saint-Maurice, die seinem Onkel gehörte, wuchs Chappaz auf, hierher (und aus den öffentlichen Debatten) zog er sich nach dem Tod seiner Frau Corinna Bille 1979 zurück, um fortan sein Inneres ­literarisch zu erkunden. Anderen Quellen zufolge lebte er in seinen letzten Jahren in der Abbaye und im Vallon de Réchy – laut Wikipedia ein unbewohntes Tal. Passt zu ihm.

Wernetshausen ZH
Übersetzerhaus Looren

Es sind nur 35 Minuten von Zürich nach Wernetshausen. Hier wohnt Bundesrat Ueli Maurer, Zürcher Gümmeler ­kennen die brutal steile Strasse auf den Ausflugsberg Bachtel. Noch einmal etwas ausserhalb gelegen, bietet das Übersetzerhaus Looren literarischen Übersetzern gleichzeitig Rückzug und Austausch: Bis zu zehn von ihnen ­residieren hier gleichzeitig, da entstehen ganz natürlich Begegnungen und fruchtbare Diskussionen. Das kombinierte Wohn- und Geschäftsgebäude, ein ehemaliger Verlagssitz, sieht von aussen eher profan aus. Dieser Eindruck ändert sich im Inneren, vor allem im riesigen Wohnzimmer mit ebenso riesiger Bücherwand. Und dann dieser Ausblick. Auf einer Infotafel am Wanderweg steht, worauf man hier blicke, sei «unbestritten eine der schönsten Landschaften der Schweiz». Die Augen im gleissenden Abendlicht zusammenkneifend, kann man nur zustimmen. Oder wie es ein französischer Looren-Stipendiat ausdrückte: Endlich ein guter Grund, Übersetzer geworden zu sein.

Linthal GL
Karl Kraus und Daniel Mezger

Ganz, ganz hinten im «Zigerschlitz», da, wo selbst die wenig befahrene Klausenpassstrasse eine andere Richtung eingeschlagen hat, liegt das Hotel Tödi. Hier schrieb Karl Kraus Teile seines Monumentalwerks «Die letzten Tage der Menschheit» (und traf sich über Jahre heimlich mit ­einer ungarischen Gräfin). Sollten Sie einen Besuch in Betracht ziehen (ob zum Schreiben oder nicht), lassen Sie sich nicht davon ablenken, dass dieser Ruheort auch Kraftwerksbesichtigungen anbietet: Die Anlagen sind fast komplett unterirdisch. Das Hotel, das dank einer Investition der Kraftwerke Linth-Limmern seit 2009 wieder geöffnet hat, wirbt also ganz zu Recht mit dem ­Slogan «sagenhaft abgelegen». Etwas weiter unten, im Ortsteil Auen, liegt der familieneigene Rückzugsort unseres Kolumnisten Daniel Mezger, der in Linthal geboren ist.

Wassen UR
Kristin T. Schnider

Auch wenn die schnellen Züge heute weit unter dem berühmten Chileli durchbrausen: Darüber, ob man bei einem Ort mit ­eigenem Autobahnanschluss von Abgelegenheit sprechen kann, lässt sich diskutieren. Weit weg von den urbanen Lebensräumen, wo man jemanden wie Kristin T. Schnider («Die Kodiererin», 1990) verorten würde: Dunkelhäutig, lesbisch und dann noch Schriftstellerin, nichts Handfestes; mehr Auswärtige – Lachonigi, wie man hier sagt – geht kaum. In der Tat eckte die unnachgiebig-­direkte Schnider in Wassen zunächst an. Doch sie engagierte sich für die Belange des Dorfes – und das wurde anerkannt. Im Jahr 2015 wählten sie die Wassener sogar zur Gemeindepräsidentin. Und 2019 gab es mit «Friction. Faction. Fiction.» (édition sacré) erstmals nach 23 Jahren wieder eine Schnidersche Neuveröffentlichung – Empfehlung!

Alp Brusada TI
Friedrich Glauser

Als Friedrich Glauser im Sommer 1917 «verbeiständigt» wurde, flüchtete er ins Tessin. Das Geld für das Leben am See ging rasch aus, also zog er mit den Dadaisten Hugo Ball und Emmy Hennings auf die Alp Brusada im Maggiatal (genauer: im Seitental Valle del Salto): «Unser Wohnhaus war ein Schuppen. Wir schliefen auf Bergheu. […] Wir verteilten unter uns die Stunden des Tages zur Benützung der Schreibmaschine. […] Hauptnahrungsmittel waren Polenta und schwarzer Kaffee. Das Melken der Ziege war nicht ganz einfach. Als wir kein Geld mehr hatten, gingen wir auseinander.» 1919 flüchtete Glauser ein zweites Mal ins Tessin, diesmal aus der Münsinger Psychiatrie. In den Künstlern und Aussteigern vom Monte Verità in Ascona sah er Gleichgesinnte, pflegte den intellektuellen Austausch. Doch nach zwei Monaten sehnte er sich ­wieder nach Einsamkeit und zog, diesmal mit seiner grossen Liebe Elisabeth, in eine leerstehende Mühle oberhalb von Ronco sopra Ascona, wo die beiden bis im Sommer 1920 unter Ringelnattern und Haselmäusen lebten.

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