Über die Fuorcla Zadrell
Dass ihm Fahrgäste beim Einsteigen ein Glas Marmelade schenken möchten, ist der Chauffeur dieses Postautos in Klosters nicht gewohnt. Verdutzt legt er, nachdem er verstanden hat, dass wir doch auch mit Geld bezahlen wollen, die fremde Ware in jene Mulde, aus der man üblicherweise das Rückgeld klaubt, überblickt im Rückspiegel die wenigen Reisenden, legt den […]
Dass ihm Fahrgäste beim Einsteigen ein Glas Marmelade schenken möchten, ist der Chauffeur dieses Postautos in Klosters nicht gewohnt. Verdutzt legt er, nachdem er verstanden hat, dass wir doch auch mit Geld bezahlen wollen, die fremde Ware in jene Mulde, aus der man üblicherweise das Rückgeld klaubt, überblickt im Rückspiegel die wenigen Reisenden, legt den Gang ein und fährt los. Die Konfitüre haben wir am Vorabend selbst geschenkt bekommen, in einem angestrengt noblen Restaurant, und da ich bereits Schlafsack, Zelt und Kocher im Rucksack trage, ist mir, obwohl ich das Geschenk schätze, nicht nach zusätzlichem Gewicht.
Wir wissen nicht, ob es möglich ist, winters von Klosters nach Lavin zu wandern, auch kennen wir die zungenbrechende, 2750 Meter hohe Fuorcla Zadrell noch nicht, jenen Pass, den wir hierzu überqueren müssen, aber in Monbiel, jenem miststockmüden Weiler, wo die Postautofahrt schon nach wenigen Minuten endet, stehen wir bereits mitten in einer verschneiten Berglandschaft, die derart einladend besonnt wird, dass wir an der spontanen Idee, mitten im Winter im Zelt zu übernachten, nicht herummäkeln mögen.
Entlang der Vereina wandern wir im Windschatten eines älteren Mannes, der einen älteren Schäferhund spazieren führt, beide teilen sich ruhiges Gemüt und Hüftprobleme. Unterwegs zur Stutzalp ist bald ein Bach zu queren, der sich zu einer imposanten, walfischrückenförmigen Eismasse gedehnt hat. Aber der auf 1800 Metern fast vollständig fehlende Schnee macht uns staunen. Tatsächlich wandern, so die Biologin Manuela Winkler, zahlreiche Pflanzen stetig höher, um jene Kälte zu finden, die ihrer Art entspricht; aktuell ungefähr vier Höhenmeter jährlich. Um zu klettern, sind die Pflanzen, so Winkler, auf Wind, auf Tiere und den Zufall angewiesen. Wir allerdings sind erst einmal auf eine Pause angewiesen; erschöpft lehnen wir an der warmen Fassade eines geschlossenen Berghauses. Kaum sind Brot und Käse verspeist, entschwindet die Sonne hinter einem Horn. Rasch kühlt es ab; wir müssen weiter.
Über 2000 Metern wird die Schneedecke dicker, die Kälte mächtig. Ringsum nur Frost und Fels. So still ist es, mir scheint, es sei das Gieren der Erde auf ihrer rostigen Achse zu vernehmen. Aller Kargheit spottend umgibt uns dabei Essbares: die Flechte. Ein eigentümliches Gewächs: In ihr – Lichenologen, also Flechtenkundlerinnen und Flechtenkundler, haben in Mitteleuropa über 2000 Arten bestimmt – geben sich Pilz und Alge symbiotisch die Hand. Die Alge arbeitet an der Photosynthese, der Pilz kümmert sich um den Wasserhaushalt. Ein kluges Konzept für schwierige Umstände. Schwierig auch zu sagen, was mein Gaumen meldet, als ich das gelbschwarze Gebrösel probiere, nachdem ich es vom Fels geschabt habe. Verglichen mit alten Brotkrumen nicht allzu schlecht. Müsste es aber für eine Zwischenmahlzeit reichen, stünde ich noch Stunden hier.
Bei einer nächsten geschlossenen Alphütte, im Dämmerlicht nur umgeben von Dreitausendern, Schnee und Hasenspuren, stellen wir das Zelt auf. Aus psychotaktischen Gründen einigen wir uns fröstelnd darauf, dass es lediglich minus fünf Grad kalt ist, nehmen aber dennoch, was wir anderntags zum Frühstück trinken möchten, mit in den Schlafsack.
Es ist bereits wieder finster, als wir am Folgetag endlich Lavin erreichen und wissen:
Wer winters die Fuorcla Zadrell überqueren will, sollte, was die Energiezufuhr angeht, nicht allein auf Flechten vertrauen. Der eine oder andere Löffel Marmelade schadet nicht.
Urs Mannhart
ist Schriftsteller und Reportagejournalist. Zuletzt von ihm erschienen: «Bergsteigen im Flachland» (Secession, 2014). In seiner Kolumne «Kraut und rüber» bereist er die Welt und erzählt von Orten, Wegen und wilder Naturkulinarik.