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Michelle Steinbeck: «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch»

Michelle Steinbeck:
«Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch»

 

Was, wenn man eines Morgens aus einem Traum aufwachen würde – nur um festzustellen, dass man doch immer noch darin feststeckt? Beim Lesen der ersten Seiten von Michelle Steinbecks «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» dürfte es dem Leser mehrfach so ergehen. Immer wieder erwischt man sich bei dem Gedanken: Jetzt ist sie aufgewacht, jetzt wird doch noch alles klar. Nur um dann festzustellen, dass es nicht so ist. Zum Glück. Denn der Kosmos, den die Autorin in ihrem Debütroman erschafft, hat es in sich. Aus der Perspektive der jungen Loribeth erzählt Steinbeck in kurzen, einfach gehaltenen Sätzen, wie die Protagonistin sich auf die Suche nach ihrem Vater macht, um ein Kind bei ihm abzuliefern, das sie aus Versehen getötet hat und seither im alten Koffer des Vaters mit sich rumschleppt. Sie haben richtig gelesen. Schon die Ausgangssituation ist derart unwirklich, dass sie förmlich nach einer Auflösung schreit. Doch genau hier liegt das Bemerkenswerte an Steinbecks Erzählstil: Sie ordnet eben nicht ein, erklärt nicht, entschuldigt nichts. Stattdessen reiht sie mit der Selbstverständlichkeit einer Träumenden ein surreales Bild ans nächste. Da ist zum Beispiel ein Trio aus sprechenden Doggen, das Loribeth verfolgt und immer wieder an das tote Kind im Koffer erinnert. Oder eine rote Stadt, durch die sich eine lange Brücke zieht. Als Loribeth über diese Brücke die Stadt verlassen will, wird ihr gesagt, das sei unmöglich: «Die Brücke ist wie der Regenbogen, niemand findet ihren Anfang.» Dass Loribeth schliesslich doch immer weiter zieht, unterstreicht die traumgleiche Erzähllogik. Schauplätze und Menschen sind plötzlich da, verschwinden aber genauso plötzlich wieder. Das Kind im Koffer ereilt ein ähnlich ambivalentes Schicksal: es ist mal mehr und mal weniger tot. Aller Unwirklichkeit zum Trotz ergeht es Loribeth gegen Ende ihrer Suche dann doch so wie manchem Adoleszenten: «Die grossen Mysterien sind flach geworden wie Papier. Ungelöst zwar, aber auch nicht mehr so dringlich.» Auch für den Leser bleibt vieles lange ungelöst. Die Trennlinie zwischen schlicht absurden und metaphorisch bedeutsamen Elementen des Buchs bleibt lange verschwommen. Aber das ergibt durchaus Sinn: Letztlich handelt der Roman von der Suche nach einem klaren Blick auf genau diese Trennlinie. So dockt das Buch ganz allmählich an das eigene, wache Leben des Lesers an: Wer kennt nicht das Gefühl, in einer bisweilen grotesken Suche nach etwas Bedeutsamem festzustecken? Und welcher junge Erwachsene schleppt nicht insgeheim das Kind mit sich rum, das er aus Versehen getötet hat – und sucht jemanden, bei dem er den Balg endlich loswerden kann? Erfrischend ist, dass sich Steinbeck den Themen, die dem Buch zugrunde liegen – Selbstsuche und Erwachsenwerden –, eben nicht mit der gängigen Szeneroman-/Coming-of-Age-Attitüde nähert, sondern einen sehr unkonventionellen Zugang wählt. Ob Loribeth je ankommen wird? «Ich will immer woanders sein, nie da, wo ich gerade bin. Aber nützt das, woanders hinzugehen? Ich nehme mich ja immer mit.» Erwachsenwerden war in letzter Zeit nie so poetisch wie bei Steinbeck.

Michelle Steinbeck: Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch. Basel: Lenos, 2016.

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