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Vincenzo Todisco: «Rocco und Marittimo»

Vincenzo Todisco:
«Rocco und Marittimo»

 

Wie klingt es – im 21. Jahrhundert –, einen Roman als «warmherzigen, wehmütigen, altmodischen Schmöker für lange Winterabende vor dem Kamin» zu bezeichnen? Darf man so über ein Buch urteilen? Ich schwanke, ich zweifle, bin mir gar nicht sicher. Finden Sie das onkelhaft? Hört sich das wie ein nett verpackter Verriss an? Das hätte Vincenzo Todiscos vierter Roman Rocco und Marittimo in der Tat nicht verdient.

Der in italienischer Sprache schreibende Rhäzünser hat vielmehr einen bewegenden Familienroman über drei Genera-tionen Gastarbeiter verfasst, die aus der Armut und Schönheit des süditalienischen Dorflebens in die ökonomische Kälte von Chur und Umgebung zogen, aber nie mit ganzem Herzen in den Alpen sesshaft wurden. Es ist die Geschichte von Rocco, dem beinharten Rebellen, Marittimo, dem feingliedrigen Genie, und Don Curte, dem einzigen, der weiss, warum die Geschichte nicht gut ausgehen kann. Nicht zu vergessen die Geschichte von Marittimos Santina, die zu schön ist für beide Welten, das Meer und die Berge. Dieses Personal bietet eingängiges Lesevergnügen ohne Löcher und Lücken im Erzählstrang, die Geschichte berührt das heikle Thema der Zuwanderung mit Verstand, schildert das süditalienische Leben in den schillerndsten Farben und gewinnt auch der nüchternen Schweizer Betriebsamkeit ihren Reiz und Wert ab. Dennoch kränkelt der Roman an manchen Stellen, denn seinen Autor befällt häufig ein ungelenkes Zucken: Auf die glatte Handlung klatscht er eine unnötige Spachtelmasse mystischer Bilder (das Meerungeheuer Talicubra) und hanebüchener Symbolik (horizontale Welt der Küsten Italiens vs. vertikale Welt der Schweiz, Marittimos sphärisch schwebende, Raum und Zeit aus den Angeln hebende Fussball-Dribblings und Klavierinterpretationen – kein Scherz) und legt so einen gipsgrauen Schleier über den langen Winterabend vor dem Kamin mit einem warmherzigen, wehmütigen, altmodischen Schmöker.

Darf man so über ein Buch urteilen? Es soll ja nicht wie ein Verriss klingen.

Vincenzo Todisco: Rocco und Marittimo. Zürich: Rotpunktverlag, 2011.

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