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Urs Faes: «Raunächte»

Urs Faes: «Raunächte»

Nach vierzig Jahren heimkehren.

So behutsam beginnt Urs Faesʼ kleine funkelnde Erzählung «Raunächte». Und ebenso behutsam entwickelt sich die Geschichte, die hier erzählt wird. «Er setzte Fuss vor Fuss, als müsste jeder Tritt einen Abdruck hinterlassen im Schnee, (…) Flockenwirbel im Grau, das herabhing, von den Vordächern und Giebeln der Stadt, an denen er seltsam unberührt vorübergegangen war.» Schritt für Schritt tastet sich der Erzähler in seine Erinnerungen hinein, und Abdruck für Abdruck setzt sich im Kopf des Lesers ein Mosaik jener Geschehnisse zusammen, die den jetzt Heimkehrenden vor vierzig Jahren dazu bewegt haben, seine Heimat zu verlassen.

Die Handlung lässt sich rasch zusammenfassen: Manfred kehrt nach Jahrzehnten im Ausland in sein Heimatdorf in einem abgelegenen Schwarzwaldtal zurück, um sich mit dem jüngeren Bruder zu versöhnen. Nach einer glücklichen Kindheit kam es zwischen ihnen zum Streit. Als sich auch Minna, seine grosse Liebe, für Sebastian entschied, liess sich Manfred zu einer Rachetat hinreissen und floh.

Um der Atmosphäre der Landschaft und den mit ihr verbundenen Mythen möglichst nahezukommen, erwanderte Urs Faes während dreier Jahre mehrfach und bei jeder Witterung das Harmersbachtal. Und dieses Bemühen um Authentizität wird mit jeder Zeile des nun vorliegenden Textes greifbar (die Erstfassung, ursprünglich als halbstündige Lesung für den SWR konzipiert, umfasste nur 15 Seiten). Erzählt wird parallel auf den Ebenen der Gegenwart, der Erinnerung und der Mythen. Zwischen diesen wechselt der Autor, ohne dass es zu Brüchen kommt, hin und her. Auf der Gegenwartsebene begleiten wir den Rückkehrer Manfred auf seinen Streifzügen auf altbekannten Wegen. Das Hier und Jetzt und das Damals fügen sich zu quälenden Fragen: «Wo gehörte er hin? Wo hätte er hingehört? Auf den Hof? Zu Minna?» Und nach und nach tauchen beim Erzähler (das meiste spielt sich nur in seinem Kopf ab) mehr und mehr Erinnerungsfetzen auf, die wiederum beim Leser für weitere Spannungsmomente sorgen. Denn die Frage, was letztendlich den Streit und die Flucht auslöste, wird lange offengehalten. Unterfüttert wird das Ganze mit Erzählungen und Mythen, vor allem denjenigen um die sagenumwobenen Raunächte. Denn die entscheidenden Teile der Handlung spielen an den Tagen des Altjahresendes. «Das sind die Losnächte, da fällt der Würfel über Heil und Unheil, auch über deines, Besenwirt, da heulen die Geister, du kannst sie hören», heisst es am Stammtisch im «Schwarzen Adler».

Als eindrucksvoll und stimmig erweisen sich auch die Naturbeschreibungen: «…das talaufwärts steigende, hügelige Land mit den dunklen Tannen, die dicht und schweigend standen, den Tag zur Tannennacht machten, das Wipfelrauschen zum Abendlied.» Ebenso passend sind die in ihrer Funktion als Paratext der Erzählung vorangestellten Zeilen aus Celans Gedicht «Heimkehr» sowie die Verse Eichendorffs, die als Folie für Minnas Gemütslage dienen.

Urs Faes gelingt ein Bravourstück poetischer Verdichtung, das auf leise Art begeistert.


Urs Faes: Raunächte. Berlin: Insel, 2018.

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