Von Iffwil nach Bern
Wo die Dentalhygienikerin wartet.
Kaum taucht die schmale Strasse hinter Bäriswil in den umwerfend giftgrünen Wald, rollen die Reifen hinein in die Steigung, und ich wechsle in den Wiegetritt. Ich mag die Geometrie meines Rennrads, mag die unbestechliche Physik. Auch schätze ich diese Gegend zwischen Burgdorf und Bern mit ihren versteckten Winkeln, sich schmückend mit Flurnamen wie «Sterchihubel», «Rötelismatt» und «Müliweidli», und jedes Mal, wenn ich diesen Wald hinter mir lasse und ins Lutzerental einbiege, wo im gegen-überliegenden Hang, von schönen Nadelhölzern umgeben, zwei stolze Felsen sich zeigen, «Galgenhöchi» und «Liebefels» mit Namen, zieht es mich unweigerlich hinein in die rezent-romantischen Atmosphären Gotthelf’scher Prosa.
Und doch plagt mich heute eine unfrohe Laune. Denn ich weiss nicht, was ich davon halten soll, dass mein Kopf der Frage hinterhersinnt, ob auf dem Anhänger, der mich zuvor überholt hat, nicht «Lebende Tiere», sondern «Lebendige Tiere» zu lesen sein sollte. Oder präziser wohl: «Vor kurzem noch lebendige, jetzt lebende und bald tote Tiere.»
Obwohl die Strasse unverändert steil ansteigt, schalte ich einen Gang hoch und drücke kräftiger in die Pedale; gerne möchte ich der Moral davonfahren, die ich aus meinen Gedanken heraustriefen fühle. Hadere ich mit der Tatsache, dass auch ich hin und wieder, bei meiner Arbeit auf einem Bauernhof, ein Tier gegen seinen Willen in genau einem derartigen Anhänger zum Schlachthof fahre? Muss ich mich, allgemeiner gefasst, tadeln dafür, dass ich zwar selbst kein Fleisch esse und kein Auto besitze, aber dennoch zum Beispiel kaum einen Finger krümme, um das In-sektensterben in der Schweiz zu bremsen? Oder soll ich akzeptieren, dass ich manchmal schlicht faul bin und nicht aus meiner Haut kann?
Jedenfalls kann ich nicht aus meinem Zahnfleisch, und in der Hoffnung, mich unter den Folterinstrumenten meiner schrecklich engagiert zur Sache gehenden Dentalhygienikerin mit erschöpften Beinen besser zu fühlen, fahre ich auf hübschen Umwegen in einer knappen Stunde von meinem Wohnort in die Hauptstadt.
Jäh wirft mich der Anblick eines Staubsaugers in einem Garten aus meinen Gedanken. Ich traue meinen Augen kaum, aber am Rand der Strasse kniet eine Frau in einem Garten, der ausnahmslos aus jenen Steinen besteht, wie sie nun mehr und mehr vor abstossend ordentlichen Einfamilienhäusern liegen. Und egal wie wenig ich es glauben kann: Sie kniet dort und saugt mit einem Staubsauger böse kleine Birkenblätter weg, die ungefragt in ihren Steingarten geflogen sind.
Vor Irritation touchiere ich beinahe einen Zaunpfosten. Ich halte an, um ein Klettenlabkraut von der Böschung zu pflücken. Für den rohen Verzehr ist es wenig geeignet; es schmeckt erdig, der Haupttrieb ist drahtig, aber nach diesem Anblick habe ich eine deftige Portion Natur dringend nötig.
Und noch während ich den Kopf schüttle über die Idiotie, alles mit Steinen zu überziehen, statt würzige, für Mensch und Insekten enorm wertvolle Kräuter wachsen zu lassen, holt mich die Moral wieder ein. Verhält es sich mit ihr wie mit dem Kranksein? Hilft es mir, eine Krankheit zu ertragen, wenn ich sehe, wie viel übler es anderen Kranken geht? Hilft es mir, mein moralisches Ungenügen zu kaschieren, wenn ich mich ärgern kann über andere, die noch merklich weniger von Ökologie begriffen haben als ich?
Gegen diesen Gedanken scheint kein Kraut gewachsen. Und ich merke, es ist gegen meine Moral, so moralisch zu sein. Immerhin aber kann ich mich noch darüber freuen, mit einem frischen Kraut zwischen den Zähnen zu meiner strengen Dentalhygienikerin zu fahren.