Einen Anfang wagen
«Menschliche Regungen», Tim Krohns neues Mammut-Romanprojekt, ist eine Enzyklopädie der menschlichen Gefühle und Charakterzüge im beginnenden 21. Jahrhundert. Mit knapp 1000 Einträgen auf 5000 Seiten. Was gewaltig klingt, begann ganz bescheiden. Ein Werkstattbericht.
Ich bewohne mit meiner Familie ein fünfhundert Jahre altes Bauernhaus im Val Müstair, sehr verschroben gebaut, mit geheimen Winkeln und krummen, steilen Treppen. Diese Treppen wurden zum Problem, als wir entschieden, meine betagte Mutter zu uns zu nehmen. Sie kann sie nicht mehr steigen, doch unser einziges Bad lag im Obergeschoss. Also sahen wir uns gezwungen, ihr in einen jener geheimen Winkel ein leicht begehbares Bad zu bauen.
Nun ist es so, dass Schriftsteller mit ihren Texten meist erst Jahre nach der Fertigstellung Geld verdienen – wenn überhaupt. Ganz anders ist das beim Crowdfunding, also der Finanzierung eines Projekts über private Unterstützer via Internet. Dort heisst es «Top oder Flop» – entweder man scheitert oder man hat nach zwei Monaten sein Geld zusammen. Daher sprach ich mit Rea Eggli, der Gründerin der Plattform wemakeit.ch und einer lieben alten Freundin, über die Möglichkeiten, mittels Crowdfunding ein literarisches Projekt zu finanzieren, und plötzlich kam ganz vieles zusammen.
111 Begriffe für ein Bad
Begonnen hatte alles ganz bescheiden. Lange schon hatte ich eine Liste aller Begriffe geführt, welche die Gefühle und Charakterzüge des Menschen benennen, von «aalglatt» bis «zynisch», quasi ein Inventar unseres emotionalen Haushalts. Schnell waren mehrere hundert beisammen (ja, der Mensch ist komplexer, als man meinen mag), und weil ich die Phantasie hatte, zu jedem dieser Begriffe eine Geschichte zu schreiben und all diese Geschichten wiederum zu einem gewaltigen Roman zu verweben, war ich davon ausgegangen, dass dies mein «Alterswerk» würde. Denn wie gesagt: Geld verdient man in meinem Beruf eigentlich erst, wenn ein Werk abgeschlossen ist. Dieses Prosawerk aber würde leicht mehrere tausend Seiten umfassen, und da ich diverse Mäuler zu ernähren habe, kann ich es mir gar nicht leisten, länger als ein oder zwei Jahre an einem Buch zu sitzen.
Nun, «wemakeit» machte es möglich: Wir entschieden, eine erste Tranche von 111 Geschichten zum Verkauf anzubieten. Die privaten Geldgeber der Crowdfunding-Plattform sollten also nicht nur mein Projekt unterstützen – sie kauften stattdessen ein literarisches Produkt. Konkret durfte (und darf weiterhin) jeder und jede sich eine der «Regungen» aussuchen (jede wird nur einmal vergeben) und erhält zu dieser Regung seine ganz persönliche Geschichte. «Persönlich» deshalb, weil die Unterstützer gebeten wurden, ein bis drei ganz beliebige Wörter oder auch Zahlen anzugeben, die sie in ihrer Geschichte wiederfinden wollten, beispielsweise «Kaugummi», «weiterschlafen» und «08/15». Kurz: das Projekt schlug ein wie eine Bombe, diverse Medien berichteten, und innert eines Monats hatte ich für 50 000 Franken Geschichten verkauft – Mamas Bad war gesichert.
Für jedes Portemonnaie
So viel zur Vorgeschichte. Nun ging es ans Schreiben. Was ich unterschätzt hatte, war die Menge an Geschichten, die geordert worden war. Ich biete verschiedene Preisklassen an: eine einfache Geschichte zum privaten Gebrauch kostet 250.–, doch man kann sie auch zum Eiltarif bekommen (500.–) oder verbunden mit einer Hotelzimmerlesung im Val Müstair (750.–). Für Buchhandlungen und Bibliotheken gibt es ein 3er-Paket Geschichten inklusive Lesung vor Ort für 1000.–. Firmen dürfen für 1750.– die Geschichte für ein Mailing benutzen (auch hier gibt es noch eine Lesung obendrauf), 2500.– kostet eine Geschichte mit einem Tag Wandern und Philosophieren im Münstertal, und wer 5000.– zahlt, ist für eine Woche mit Partner bei uns privat zu einem exklusiven Schreibworkshop geladen. Die weitaus meisten Leute buchten nun allerdings die «Billigversion», und so hatte ich auf einen Schlag 111 Schreibaufträge zu bewältigen – dies wohlgemerkt für ein Projekt, von dem wir nicht gegessen haben, sondern nur bauen.
Material für zehn Jahre Arbeit
Hier allerdings erweisen sich die Zusatzwörter und -zahlen, die mir die Unterstützerinnen und Unterstützer angegeben haben, als Gold wert. Habe ich nur einen Begriff wie «Heiterkeit», ist das Feld des Denk- und Schreibbaren endlos. Kommen aber die Wörter «Klavier», «Explosion», «Entschweben» hinzu, formt sich unmittelbar eine Welt, in der ich mich leicht zurechtfinde.
Bevor ich mit dem Schreiben der einzelnen Geschichten begann, definierte ich zudem einen Rahmen, der weit genug sein musste, um tausend Geschichten über rund zehn Jahre Arbeit zu tragen, doch auch eng genug, dass ich mich darin sicher bewegen konnte, ohne allzu bald die Übersicht zu verlieren. Ich beschloss daher, dass die gesamte sich zur Conditio humana verdichtende Textwelt in den bescheidenen Verhältnissen eines Genossenschaftsbaus im Zürcher Kreis 5 stattfinden soll (der fiktiven «WBG Transport»), in vier 2-Zimmer-, drei 3-Zimmer- und einer Gäste- oder auch Dienstwohnung. Ich habe selbst fast zwanzig Jahre in einem solchen Haus gewohnt und kenne die Verhältnisse gut. Auch das Personal war im Voraus definiert: Hubert Brechbühl ist pensionierter Trämler und notorischer Einzelgänger, dabei stets bestrebt, sich menschlich zu vervollkommnen. Moritz Schneuwly ist ETH-Student aus Biel, höchst verspielt, höchst kreativ, er verzettelt sich in tausend Projekten und wirkt mit seiner knabenhaften Unbekümmertheit nicht nur auf Frauen seines Alters. Das Ehepaar Wyss (Erich war einst Logistikverantwortlicher der Post, sprich: er arbeitete beim Päckchendienst) hat die achtzig überschritten, wartet schon länger auf den Tod, ist dazu aber eigentlich noch viel zu lebendig. Selina May, freischaffende Schauspielerin Ende dreissig, wandelt sich mit jedem Projekt, in dem sie spielt. Dem realen Leben steht sie höchst ambivalent gegenüber. Aus diesem Grund lebt sie auch allein. Das tut ebenfalls Julia Sommer, genauer gesagt zieht sie ihre vierjährige Tochter Mona auf, dazu arbeitet sie in einem Kinderbuchverlag, der allerdings wenig Verständnis für die Erfordernisse einer alleinerziehenden Mutter aufbringt. Efgenia und Adamo Costa sind in den Vierzigern, er chauffiert einen Rettungswagen, sie ist rückengeschädigt und zumindest vorübergehend arbeitsunfähig. Davor führten die beiden ein sexuell ausgesprochen aktives Leben, die Sinnkrise nach Efgenias Unfall treibt entsprechend seltsame Blüten. In der Wohnung unter ihnen lebt das Studentenpärchen Pit und Petzi, beide frisch ab Muttern, begeistert probieren sie das Erwachsensein in allen Facetten aus, verrennen sich öfters furchtbar und rappeln sich wieder, wie nur Zwanzigjährige sich rappeln können.
Mein Ehrgeiz ist, dass sie sich in den gesamten zehn Jahren des Romans nicht trennen, zumindest nicht auf Dauer. Ja, und dann brauche ich noch einen Joker, den liefert mir die eine Parterrewohnung. Sie ist einer geschützten Föhre wegen zu finster geworden und wird nur noch kurzfristig vergeben, an Besucher der Bewohner und für Arbeitseinsätze auswärtiger Handwerker in der Genossenschaft.
Nachdem all dies gesetzt war, machte ich mich ans Schreiben, wobei ich mir auferlegte, jeden Tag eine Geschichte zu schreiben. Faktisch (da ich noch anderes zu erledigen habe, denn dieses Projekt war ja in meinem Terminkalender gar nicht geplant) hiess das: wöchentlich entstehen 3 bis 4 Geschichten. Den Anfang machte «Heiterkeit», weil dies ein Eilauftrag war, danach folgte ich weitgehend der Chronologie, in der die Unterstützerinnen und Unterstützer ihren Wunschbegriff deponiert hatten. Der mutmasslich dereinst 5000seitige Roman beginnt so:
«Heiterkeit»
In der Silvesternacht des Jahrs 2000 hatte Hubert Brechbühl vor, früh schlafen zu gehen. Ein Jahr zuvor, in der Nacht des grossen Zahlensprungs, hatte er dem Datumswechsel noch regelrecht entgegengefiebert, mit gemischten Gefühlen und gut ausgerüstet mit Kerzen, Thermodecke und haltbaren Lebensmitteln für vier Wochen. Die Badewanne, Töpfe und Pfannen hatte er mit Wasser gefüllt und war vorsorglich kurz vor Mitternacht nochmals aufs Klo gegangen. Dann hatte er den gefütterten Anorak angezogen, in dessen Innentasche er bereits – assortiert in mehreren Briefumschlägen – sein kleines Vermögen verstaut hatte, das er sich zwei Tage zuvor in der Post am Limmatplatz hatte auszahlen lassen. In die Aussentaschen hatte er ein Klappmesser mit Lupe und Pincette gesteckt, einen Flachmann mit Enzian und eine kurbelbetriebene Taschenlampe. Er war in die Moonboots geschlüpft (und wie dankbar war er nun, dass er vor dreissig Jahren nicht nachgegeben hatte, als seine Mutter, die ihm beim Umzug half, sie der Caritas hatte schenken wollen), dann hatte er sich eine letzte Kanne schön heissen Kaffee gekocht, eine Kerze angezündet und vor dem Fernseher darauf gewartet, dass mit dem Datumswechsel die komplexe Technik, auf der das westliche System beruhte, und damit das gesamte Abendland zusammenbrach.
Getippte und gesprochene Geschichten
Inzwischen entsteht tatsächlich fast täglich eine Geschichte von etwa fünf Seiten Länge. Nachmittags schreibe ich die erste Fassung (in unserem Gesindezimmer unterm Dach, mit Blick durch die verworfenen alten Fenster auf die Dorfstrasse, den Flieder, die Astern und den Stall der Nachbarn). Abends, wenn die Kinder im Bett sind, überarbeite ich die Geschichte und lese sie auf Band – denn auch das gehört zum Angebot: ein lebenslanges Abonnement, die Entstehung der Geschichten auf Facebook quasi in Echtzeit als Hördatei zu verfolgen. Gestern habe ich die 93. geschrieben (diesmal im Zug, denn ich bin auf Lesereise), bis Weihnachten soll der erste Band abgeschlossen sein. Wenn ich den bisherigen Lesern glauben kann, liest er sich wie eine dieser Montagabendserien, der Suchtfaktor ist gross, man will immer wissen, wie es mit dieser oder jener Figur weitergeht. Das gefällt mir gut, denn ich will ja kein Nachschlagewerk schaffen (oder nicht nur), sondern einen Roman in klassischer Erzähltradition.
Kollaboratives Schreiben
Der erste Band wird mittlerweile nicht mehr nur 111 Geschichten respektive Kapitel versammeln, sondern fast 140. Dies aus zwei Gründen: Erstens ergeben sich somit übers Ganze gerechnet sieben Bücher, das scheint mir eine runde Zahl zu sein. Sieben Bücher in zehn Jahren, so ist das mit dem Verlag bisher geplant (wobei alles noch in Diskussion ist, denn dieses Projekt ist auch für den Verlag eine happige Verpflichtung). Zudem meldeten sich immer wieder Menschen mit so guten Argumenten, dass ich nicht umhin konnte, ihnen auch noch eine Geschichte zu verkaufen.
Denn das ist das vielleicht Wichtigste: Meinem Gefühl nach sind es nicht nur «meine» Geschichten, es sind «unsere». Das Schreiben fühlt sich völlig anders an als sonst: Ich fasse etwas in Worte, das seinen Keim ausserhalb von mir hat. Und die Reaktionen der «Kundschaft» bestätigen das. Viele Leute lassen sich sehr viel Zeit beim Wählen «ihres» Gefühls, manchmal debattieren sie mit mir, und die Rückmeldungen auf die geschriebenen Geschichten sind oftmals herzlich und persönlich. Das darf auch nicht anders sein, soll «Menschliche Regungen» mehr werden als der fette Spleen eines einzelnen, nämlich ein Querschnitt durch die Gefühlslagen des Menschen im beginnenden 21. Jahrhundert, an dem – wenn sich alles weiter so glücklich entwickelt – bis zum letzten Band fast tausend Menschen mitgewirkt haben werden.
Erschienen in LITERARISCHER MONAT Nr.23. Sie können das Schweizer Literaturmagazin hier bestellen.
Tim Krohn
ist vielfach ausgezeichneter Schriftsteller. Bekannt wurde er durch seine Romane «Quatemberkinder» (Eichborn, 1998) und «Vrenelis Gärtli» (Eichborn, 2007). Er schrieb die Bühnenvorlage für das «Einsiedler Welttheater» 2013 und veröffentlichte zuletzt: «Aus dem Leben einer Matratze bester Machart» (Galiani, 2014). Krohn wohnt mit seiner Frau und zwei Kindern als freier Schriftsteller in Sta. Maria im Val Müstair.