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Wovon wir reden, wenn wir von Bergen reden

Kurze Sätze über Grate

Ein Stein ist ein Stein. Oder doch ein Matterhorn? Eine Eigernordwand? Ein Schicksal? Eine Erfüllung? Ein Killer? Die Berge gibt es schon etwas länger. Doch seit es den Menschen gibt, erfindet er sie. Gibt ihnen Namen, Bedeutung, macht sie zum Symbol für eigene Belange. Er erfindet, was er vorfindet. Das ist so seine Eigenart. Er steht vor dem Grand Canyon, aber im Grunde sieht er seine Verlorenheit. Die Gebirge sind steinerne Leere, bis jemand kommt und eine innere Landschaft in ihnen erblickt. Berge sind ein gigantischer Rorschachtest für alle, die ihnen verfallen. An ihren Zacken und Graten hängen verborgene Ängste und Sehnsüchte. Kein Wunder, enden Gespräche über ihre Faszination sehr bald bei «Das kannst du nicht verstehen». Tatsächlich wird uns das Innerste selbst eines geliebten Menschen immer fremd bleiben. Leidenschaften lassen sich nicht verstehen, nur teilen. Zum Beispiel mit Männern und Frauen, die sich auf eine Art in diese Welt hineinwagen, die nur sehr wenige wagen. Doch fallen sie, stürzen auch unsere Projektionen ab. Oder weshalb war Ueli Stecks Tod für so viele so schwer zu verstehen? Unglaublich sei dies, unfassbar. So las man. War es nicht in Wahrheit unglaublich und unfassbar, dass Ueli Steck sein Tun so lange überlebt hatte? Sein Tod war das Wahrscheinliche, das Erwartbare. Aber mit dem Bergsteiger Ueli Steck ist eine Lichtgestalt schweizerischer Selbstwahrnehmung abgestürzt. Die liebgewonnene Vorstellung, dass Fleiss und Bescheidenheit halt doch der Weg auf alle Gipfel sei. Dass Athletik über das Abenteuer siege. Wer alles richtig mache, dem wird alles möglich. Diese Idee war gestorben. Und letztlich geht es immer um die Idee von etwas. Die Menschen hingen nicht mit ihm am Felsgriff, sie hingen mit ihm an einer Idee. Als Personen, als Gesellschaft. Ein paar wenige kannten Ueli Steck, doch eine ganze Nation kannte das Ideal, das er ihnen verkörperte. Auch wir einfacher gestrickten Wandersocken tun gut daran, immer wieder die Beweggründe unserer Liebe zu den Bergen zu erforschen. Erkenntnishöhen erwarten den solcherart Mutigen. Wer möchte, der kann dem sogar bequem auf der Couch nachgehen. Denn ab und an erscheint ein Buch, das gar nicht so tut, als würde es uns von der Welt der Berge berichten. Sondern darauf fokussiert, was wir über uns erzählen, wenn wir von den Bergen erzählen. Ein besonders schönes und aufschlussreiches heisst «Bold Climbers» und versammelt Studien, Berichte und Essays aus einem mehrmonatigen Workshop der Künstlerin und Wissenschaftshistorikerin Jelena Martinovic an der Hochschule für Kunst und Design in Genf. In kühnem Layout kreuzen sich darin die Wege von Alpinisten, Filmemachern, Psychologen, Kunsthistorikern, Satanisten und Poeten. Mythologie trifft auf Erfahrungsbericht auf neobarockes Filmschaffen auf Medizinwissenschaft auf ästhetische Forschungsreise auf Unglücke und Glorie und stets auf imaginierte und erlebte Landschaften, die zur Leinwand wurden für den menschlichen Geist. Schliesslich ist er es, der, wenn überhaupt, die Berge bezwingt. Indem er die Naturgewalten durch ideologischen Mist kleinmacht und herabmindert. Oder sie zur Ewigkeit denkt – diese unbedeutenden Steinbrocken mit ihren läppischen Jahrmilliönchen in unserer Galaxie unter Galaxien.


Buch: Jelena Martinovic: Bold Climbers. Lausanne: Cordyceps Press, 2017. Vertrieb: Oraibi + Beckbooks, Genf.


Markus Rottmann
ist freischaffender Texter in Zürich. Zuletzt sind von ihm die Bücher «Calanca – Verlassene Orte in einem Alpental» (gemeinsam mit dem Photographen Oliver Gemperle; Benteli, 2010) und «Black Island» (gemeinsam mit dem Illustrator Thomas Ott; Hammer-Verlag, 2013) erschienen.

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