Anna Stern:
«Schneestill»
Das gab’s ja alles schon! Was ist daran neu? Paris, die Stadt der Liebe! Als Ort eines rührseligen Romans! Und es geht los: «In einem kleinen, verkommenen Bistro, irgendwo in einer der dunklen Gassen […] am Fusse des Montmartre.» Warum sollte man Anna Sterns «Schneestill» jetzt weiterlesen? Um Roel – den Bücher verwirren und der weint, weil er sie nicht alle lesen kann – dabei zu beobachten, wie er der elfenhaften Théa, die sich auch Liz nennt – «Ich mag klein sein und dünn, ich mag zerbrechlich wirken, aber ich weiss mich zu wehren» –, hinterherläuft, sie sich verfolgen lässt, um ihre Version des Giftmordes an zwei Kindern zu erzählen? «‹Ich will nicht gehen›, dachte Roel, ‹eigentlich will ich gar nicht gehen. Und trotzdem. Ich muss. Ich weiss nicht, was ich ihr glauben kann. Vielleicht spielt sie nur mit mir, erlaubt sich einen Spass mit meiner verwirrten Seele.›» Derlei ausgetretene Pfade verlässt die 24jährige Debütantin Stern auch nicht, wenn sie wortreich zu dem Schluss kommt, der Schnee in der Grossstadt sei «dreckig, schmutziggrau und gelb von -Abgasen und Hunden» und – mit kindlicher Bestürzung – «hatte keine Ähnlichkeit mehr mit den hübschen Flocken, als die er einst aus den Wolken gefallen war». Um es abzukürzen: der Text erinnert an schwülstige, bestenfalls pittoreske Herz-Schmerz-Prosa, wie sie in den Souvenirshops von Klöstern und Münstern zu kaufen ist. Daher nochmals die Frage: Warum sollte man «Schneestill» trotzdem lesen? Weil jedem Anfang ein Zauber innewohnt? Nein, das wäre zu sehr Hesse, er ruhe in Frieden. Hören wir lieber, was der britische Autor Tim Parks im «New York Review of Books» zur Macht junger Werke meinte: Ein neues Buch verweigere uns Lesefreuden, die wir erwarteten, es fordere uns heraus, unseren Geschmack zu verändern. Aktuelle Bücher mögen uns langweilen oder verführen, aber die eigentliche Freude und Spannung liege darin, zu überlegen, welche Aktualisierungen der Erwartungshaltung das Buch von uns erfahrenen Lesern verlange.
Nun denn, die gebürtige Rorschacherin Stern fordert also mich und meine Sozialisation als Romanleser heraus. Mich, der nach wie vor Twains «Huck Finn» für das beste Buch aller Zeiten hält, dessen erste «Erwachsenenbücher» Thriller von Alistair MacLean («Agenten sterben einsam» etc.) und die Spenser-Krimis von Robert B. Parker waren. Mich, der nie ein Freund der feinen Klinge war! Wird ein Teppich grosser Gefühle ausgerollt, ist es mir zu «schwülstig». Paris im allgemeinen sowie winterliche, bunt beleuchtete Eisbahnen oder heimelige, alte Bibliotheken als Orte von Liebesszenen im speziellen finde ich «bestenfalls pittoresk». Und wenn Männlein und Weiblein um den heissen Brei herumreden und am liebsten sich selbst in Frage stellen, dann stöhne ich: «Herz-Schmerz-Prosa, wie sie in den Souvenirshops von Klöstern und Münstern zu kaufen ist.» Aber wie kommt es, dass ein alter Leser bei der Lektüre eines so jungen Buches wie «Schneestill» trotzdem mehr als ein mokantes Lächeln zustande bringt? Indem er sich klarmacht, dass Anna Stern eben so schreibt, wie heutige 24jährige wohl leben: im ständigen Gefühlsabgleich mit Likes, (Re-)Tweets und Tags, im juchzenden, schluchzenden Dauerfeuer der WhatsApp-Postings, im emotionalen Schaufenster der Instagram-Bilderwelt. Das Leben wird erkundet über eigene Gefühle und die Gefühle der anderen, und in ständiger Selbstbeschau, ob die eigenen Gefühle auch gute Gefühle sind und wem man sie mitteilen kann. Und siehe da, ein alter Sack liest plötzlich mit Vergnügen ein junges Buch! Und nickt und grinst und fühlt. Und fühlt sich zwar auch noch immer überheblich – aber immerhin ein kleines bisschen ertappt dabei.
Anna Stern: Schneestill. Zürich: Salis, 2014.