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Giovanni Orelli:
«Die Brille des Gionata Lerolieff»

 

Ich gehöre zu den zeitweiligen Brillenträgern, zu den spätberufenen, zu denen, die sich nur schwerlich an diesen Fremdkörper im eigenen Blickfeld gewöhnen können und daher die Brille bei der erstbesten Gelegenheit dankbar wieder ablegen. Das geht natürlich nur mit einem sehr niedrigen Dioptrienwert. – Gionata Lerolieff, literaturschaffender Protagonist in Giovanni Orellis Roman «Die Brille des Gionata Lerolieff» (und im weiteren Text nur noch als «G.L.» bezeichnet), ist eine solche Freiheit nicht vergönnt: Als ihm auf der Rückreise von den Solothurner Literaturtagen im Zug die Sehhilfe abhandenkommt, gerät seine Welt aus den Fugen. Es sind bald nur noch die passierten Bahnhaltestellen auf dem Weg nach Lugano, die seinen Gedankenströmen eine gewisse Rahmung verleihen. Und selbst die bricht zunehmend auf: Je länger die Bahnfahrt dauert, desto unschärfer wird der Blick nach aussen und desto mehr verliert sich der alternde Protagonist in Erinnerungsfragmenten vor allem aus der eigenen Kindheit, vermischt mit traumhaften und phantastischen Episoden.

Seine Orientierungslosigkeit ergreift recht bald auch den Leser. Die Lektüre des zwar kurzen, aber mit zahlreichen intertextuellen Bezügen, mythologischen Anspielungen unglaublich dichten Textes lässt zwischendurch den Eindruck entstehen, man sässe selbst in einem Hochgeschwindigkeitszug, während dessen Fahrt Landschaften, Menschen und Bahnhöfe kleinerer Orte unscharf vor dem Fenster vorbeirasen und zur Illusion ineinander verschwimmender Farben und Formen werden wie auf dem Buchcover nachempfunden.

G.L.s Tonfall ist dabei immer wieder resümierend, stellenweise abrechnend mit Fragen und Konflikten, die ihn in der Vergangenheit umgetrieben haben. Gesellschaft(spolitisches) wie das Verhältnis zwischen Deutschschweiz und italienischsprachigen Landesteilen sowie gegenseitige Stereotypisierungen oder eine indirekte, aber deswegen keineswegs uneindeutige Positionierung im zum Schlagwort avancierten «Diskurs in der Enge» werden hier genauso zur Sprache gebracht wie Persönliches, das in der Retrospektive des Alters als das nun Massgebliche erscheint: Die Sehnsucht nach der verlorenen Jugend. Ein missglückter Heiratsantrag und die Auseinandersetzung mit «den letzten Fragen» wie der nach Schuld und Unschuld, nach Glaube und dessen Überwindung bewegen den Protagonisten zunehmend.

Zweifelsohne sind das die Denkmuster eines sich dem Lebensabend entgegenwähnenden Menschen, die von Orelli derart detailverliebt nachgezeichnet werden, dass der Leser irgendwann dankbar auf die jedem Kapitel vorangehenden Kurzzusammenfassungen zurückgreift. Und das keineswegs aus Faulheit: Sie schärfen nämlich nicht nur die darauffolgenden Ausführungen schon im Vorfeld, sie verleihen den nach Bahnstationen gegliederten Kapiteln auch eine eigene Ästhetik, die sich in eben dieser doppelten Form der Perspektive begründet. Eine Frage der Perspektive ist auch das Ende des Textes, das – so viel Einblick sei an dieser Stelle gestattet – nicht das Wiederfinden der Brille beschreibt.

Giovanni Orelli: Die Brille des Gionata Lerolieff. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Bonn: Weidle, 2014.

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