Brief aus dem Tessin (sei)
In Erwartung des Sommers möchte ich auf ein neues literarisches Projekt hinweisen, das der Mailänder Verlag Marcos y Marcos kürzlich initiiert hat und an dem auch zwei wichtige Tessiner beteiligt sind: der Lyriker und Lehrer Fabio Pusterla sowie der Künstler, Dozent und Verleger Luca Mengoni. Die neue Lyrikreihe heisst «le ali» («die Flügel»), betreut wird […]
In Erwartung des Sommers möchte ich auf ein neues literarisches Projekt hinweisen, das der Mailänder Verlag Marcos y Marcos kürzlich initiiert hat und an dem auch zwei wichtige Tessiner beteiligt sind: der Lyriker und Lehrer Fabio Pusterla sowie der Künstler, Dozent und Verleger Luca Mengoni. Die neue Lyrikreihe heisst «le ali» («die Flügel»), betreut wird sie von Fabio Pusterla.
Das Festival «ChiassoLetteraria», das – wie immer – viel Publikum anlockte, war dieses Jahr dem brisanten Thema «Migration» gewidmet. Daneben wurde aber auch der neue Lyrikband «Gabbie per belve» (nach einem bekannten Gedicht aus Ezra Pounds «Pisaner Gesängen») des jungen Tessiners Daniele Bernardi (Jahrgang 1981) vorgestellt. Der Berufsschauspieler hat bereits einige ausgesuchte Gedichtsammlungen veröffentlicht, sein bei Casagrande in Bellinzona erschienener neuer Band enthält rund dreissig heterogene Texte. Für mich war es ein besonderes Vergnügen, im letzten Teil des Buchs kleine «Erzählpoeme» (Gedichte wie «La madre» oder «La santa») zu entdecken: Ein Genre, das in der zeitgenössischen Lyrik fast vergessen schien und bei Bernardi unerwartet wieder zur Blüte fand.
Zwei Wahltessiner wollen abschliessend nicht vergessen sein: Alfred Andersch und Max Frisch. In «Cento passi di distanza, lettere tra amici» (Dadò, Locarno) schreiben sie einander. Die beiden Schriftsteller, die längst zu Klassikern der deutschen Literatur geworden sind, wohnten mehrere Jahre lang im kleinen, nur eine Handvoll Einwohner zählenden Dorf Berzona im Tessiner Onsernonetal, nur etwa «hundert Schritte auseinander». Aus der Lektüre dieses speziellen, aber packenden Briefwechsels lässt sich erkennen, dass das eine nicht immer einfache, aber doch fruchtbare Nachbar- und Freundschaft gewesen sein muss.
Andrea Bianchetti
ist Dichter und arbeitet als Kritiker für RSI (Rete Due). Er ist auch Redaktor der Literaturzeitschrift «Cenobio» und lehrt Italienische Literatur an verschiedenen Tessiner Gymnasien.
Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Sauser.