Brief aus der Romandie (quinze)
«Auf meinem Grabstein steht ‹Malerin, Autorin, Prostituierte›. Kommen Sie ihn besuchen. Er liegt nicht weit von Borges auf dem Genfer Cimetière des Rois.» Wer spricht da? Es ist Grisélidis Réal in Julie Gilberts Installation «La bibliothèque sonore des femmes». Altmodische Telefone stehen auf Sockeln. Wer den Hörer abhebt, ist mit dem Jenseits verbunden: Von der 1891 guillotinierten Frauenrechtlerin Olympe de Gourges bis zur 2017 verstorbenen Ethnologin Françoise Héritier erzählen schreibende Frauen aus ihrem Leben. Am Buchfestival «Le livre sur les quais» in Morges waren die Monologe in der Galerie Espace 81 zu hören – darunter erstmals drei neue Stimmen: Isabelle Eberhardt, Catherine Colomb und Agota Kristof.
Ferne Stimmen melden sich auch in Pierre Leporis neuem Roman «Nuit américaine» (Éditions d’en bas). Der Radiojournalist Alex fliegt in einer Lebenskrise nach Amerika und irrt dort alleine durch eine Grossstadt. Er kämpft mit Essattacken und mit Gedanken an verunglückte Beziehungen. Über Streaming verfolgt er, wie ein Stellvertreter seine Radiosendung fortführt, in der Hörer ihr Herz ausschütten. Die anschliessenden Musikstücke lassen sich im Buch per QR-Code direkt auf dem Smartphone mithören. Alex’ Geschichte, diejenige der Anrufenden und die Musik schaffen ein tragikomisches, berührendes Klangbild des Lebens.
In Elisa Shua Dusapins zweitem Roman «Les Billes du Pachinko» (Zoé) – den Erstling «Ein Winter in Sokcho» hat der Aufbau-Verlag soeben in deutscher Übersetzung herausgebracht – ist es eine 30jährige Schweizerin, die etwas verloren durch eine fremde Stadt streift. Claire besucht ihre Grosseltern in Tokio, um sie auf eine Reise nach Korea zu begleiten. Aber wollen die beiden alten Leute das Land, in dem sie vor ihrer Flucht lebten, wirklich wiedersehen? Wer Dusapins Roman liest, erfährt viel über Japan – nicht zuletzt bei einem grandios geschilderten Ausflug ins Heidi-Dorf in Yamanashi, das Claire mit ihrer Privatschülerin Mieko besucht. Das behutsame Porträt der kleinen Mieko gehört zum Schönsten in diesem schönen Buch.