Brief aus der Romandie (seize)
Weder Gott noch Mann noch Meister» verkündet ein rotes Band, das sich über das Cover von Daniel de Roulets neuem Roman «Dix petites anarchistes» spannt (Buchet Chastel, deutsch noch vor dem Original bei Limmat erschienen). Der in St-Imier aufgewachsene de Roulet lässt zehn junge Frauen 1873 mit je einer Taschenuhr aus seinem Heimatstädtchen ausziehen, um in Südamerika ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Vorangegangen sind zwei historisch verbürgte Ereignisse: 1851 die Ausweisung des jüdischen Arztes und Gemeinderats Herrmann Basswitz durch den bernischen Grossen Rat, gegen den Widerstand der lokalen Bevölkerung, und 1872 der erste anarchistische Kongress in St-Imier, an dem u.a. Michail Bakunin teilnahm. Der Titel des Romans lässt es erahnen: Von den mutigen Auswanderinnen bleibt zuletzt nur eine übrig, die Ich-Erzählerin Valentine, deren nüchterner Darstellung der Erlebnisse in der Fremde man gespannt und gerne folgt.
Ja, die Frage nach dem guten, dem besseren Leben. Catherine Lovey stellt sie in ihrem Essay «Et si – enfin – le temps n’était plus de l’argent?» für die heutige Zeit. Und noch eine Parallele zu de Roulet: Im ersten Band der vom Verein alit herausgegebenen «essais agités» ist auch dieser Text zwar nicht vorab, aber doch gleichzeitig auf Deutsch erschienen – ein neuer Trend? Schön wär’s! Im Plauderton hält die Autorin unserer Gesellschaft den Spiegel vor: Zeit ist Geld – die Zeit der Frauen aber ist weniger (oder gar kein) Geld. Welche Auswirkungen und sogar mögliche Chancen beinhaltet diese Ungleichheit?
Der von Lovey beklagten Hektik setzt Odile Cornuz eine besondere Form der Verlangsamung entgegen: Ihr neuer poetischer Prosaband «Ma ralentie» (Éditions d’autre part) ist von Henri Michaux’ berühmtem Prosagedicht «La ralentie» inspiriert, dem es verschiedene Motive entnimmt, allen voran die Müdigkeit als Merkmal des Menschseins. Wunderbar leicht und tiefsinnig zugleich wechselt der dichte Text von «du» zu «ich» und «man», verteidigt eine Dichterin ihre inneren und äusseren Räume: «On se fait de la place.»