Christian Haller:
«Das unaufhaltsame Fliessen»
Es soll Eltern geben, die für ihre Töchter am liebsten den optimalen Ehemann stricken würden. Die gute Nachricht für sie lautet: im neuen Roman von Christian Haller findet sich das passende Muster für das pflegeleichte Einsteigermodell «Stubenhocker». An die Wand gelehnt, ist er von der Tapete garantiert nicht zu unterscheiden und darüber hinaus monogam (fast), genügsam, studiert, kulturbeflissen, drogenfrei, politisch unauffällig, heimatverbunden (dennoch tolerant), höflich, respektvoll und treusorgend. Zahllose weitere Tugenden liessen sich beim Protagonisten von «Das unaufhaltsame Fliessen» auf Wunsch jederzeit finden.
Bis in feinste Details analysiert der 75jährige, in Laufenburg lebende Haller die künstlerische Selbstausbeutung seines jugendlichen Ich-Erzählers, der mit dem jungen Haller nahezu gleichzusetzen ist. Während Gleichaltrige vor Open-Air-Bühnen rotzevoll aus der Menge gezogen werden, theoretisiert er in Gedichten, Märchensammlungen oder geschwollenen Essays. Während sie kiffen, bei der Führerscheinprüfung durchfallen oder asiatische Kampfsportarten lernen, ediert er das Werk eines vergessenen Dichters gegen die Anweisungen der Witwe. Während Erstsemestler dieses oder jenes studieren, weil es hilft, später im Job viel Geld zu verdienen, oder weil die Uni-Veranstaltungen nie vor elf Uhr morgens beginnen, schreibt er sich für Zoologie ein, weil es seinen Horizont als zukünftiger Schriftsteller erweitert. Während Uni-Abgänger sich johlend ins Hauen und Stechen des Berufslebens stürzen oder schreiend zurück zu Mama laufen, sieht er seinen Posten an einer Schnittstelle von Wirtschaft und Politik nur als «Griff in den Schmutz» zum Zwecke eines Romans, der die Korrumpierbarkeit der feingeistigen Seele beleuchtet. Wenn der Ich-Erzähler «die losen Enden seiner Seele» in allen Nuancen behäbig durchleuchtet, bleibt er doch immer nur ein trüber und trotzdem keimfreier Schluck Wasser im Tümpel zwischen Basel und Zürich.
Der strebsamen, aber müden Handlung liesse sich sprachlich der dringend benötigte Pepp einimpfen. Die Selbstbeschau des eigenen zitternden Gemütes liesse sich entweder durch kritische Distanz über den Kitsch erheben oder mit bissigem Humor veredeln. Wenn der Erzähler aber nicht aus seiner lethargischen Rolle heraustreten soll, müsste als letzter Retter der Autor Haller selbst eingreifen und seinen grüblerischen Protagonisten vom knöcheltiefen Altwasser ins kalte «unaufhaltsame Fliessen» schubsen, um ihn dort strampeln zu sehen, zu retten oder auszulachen. Es fehlt jeglicher Esprit, jegliche Ironie. Stattdessen lässt Christian Haller sein Alter Ego alte Tagebucheinträge unkommentiert in andächtigem Duktus vortragen. Humorlos und ohne Distanz. Vielleicht sollte man bei der Lektüre stricken. Irgendetwas Unauffälliges, das zur Tapete passt.
Christian Haller: Das unaufhaltsame Fliessen. München: Luchterhand, 2017.