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Das Eine und das Andere

Essay

Das Eine und das Andere
Monique Schwitter, fotografiert von Mario Del Curto.

Das
Leben
Gekostet
Mich
Das
Leben
Geküsst

Auf den Titel meines Buches «Eins im Andern» angesprochen und was er zu bedeuten habe, antwortete ich, um mich nicht mit einer Wiederholung zu langweilen, eines Abends bei einer Lesung: «Sprich immer scheinbar vom Einen und meine das Andere.» Und getreu diesem Motto erzähle ich hier nun folgende Anekdote.

Vor kurzem war ich in Irland. Anlässlich des Erscheinens der englischen Übersetzung meines Erzählungsbandes «Goldfischgedächtnis» hatte das Goethe-Institut mich zu einer kleinen Rundreise eingeladen. Längere Zeit hatte ich aus diesem Buch nicht mehr vorgelesen, inzwischen gab es das aktuellere, «Eins im Andern» eben, und ich war gespannt auf die Wiederbegegnung mit meinen «alten» Texten.

Nach einer klassischen irischen Whiskeyglas-Lesung der Titelgeschichte in Dublin fuhr ich tags darauf deutlich derangiert an die Westküste, nach Galway, um an der Universität vor Studenten zu lesen. In Absprache mit dem dort lehrenden Professor Schmidt-Hannisa entschied ich mich für den Text «Das Nylonkostüm», in dem ein Vater, nach dem frühen Krebstod seiner Frau plötzlich allein mit dem sechsjährigen Sohn, sich an Halloween auf dessen Geheiss als Skelett verkleidet. Worauf der Kleine, obwohl er den Vater erkennt, aufs fürchterlichste erschrickt und sich erst nach längerer Zeit im Elternbett unter den streichelnden Händen des Vaters wieder beruhigt.

Professor Schmidt-Hannisa bemerkte beim anschliessenden Essen, er habe sich über diese Paraphrase auf Goethes «Dichtung und Wahrheit» sehr gefreut. Er strahlte mich an. Ich wusste nicht, wovon er sprach. In Dichtung und Wahrheit, führte er aus, gebe es doch diese wunderbare Szene mit dem väterlichen Gespenst. Der kleine Goethe habe doch immer ins Bett der Eltern gewollt; und um das zu verhindern und den Sohn zu verschrecken, habe der Vater sich als Gespenst verkleidet. Ich war fasziniert. Und konnte mich überhaupt nicht daran erinnern. Nun ist es tatsächlich zwanzig Jahre her, dass ich «Dichtung und Wahrheit» gelesen habe, aber eine derart eindrückliche Szene hatte ich doch nicht vergessen können? Ich teilte meine Bestürzung mit. Professor Schmidt-Hannisa winkte ab: «Unmöglich. Gut abgelegt haben Sie es, aber es ist Ihnen sicher nicht entfallen. Anders lässt sich dieser Bezug gar nicht erklären.»

Begierig darauf, nach Hause zu kommen und «Dichtung und Wahrheit» aus dem Regal zu ziehen, wurde ich enttäuscht. Bei Goethe nimmt die Szene gerade einmal vier Zeilen ein. Der Schrecken wird nur angedeutet. Von einer Verkleidung als Gespenst ist nicht die Rede, stattdessen heisst es: wenn es uns Kindern unmöglich fiel, allein zu schlafen «und wir uns sacht aus den Betten hervormachten, so stellte sich, in umgewandtem Schlafrock und also für uns verkleidet genug, der Vater in den Weg und schreckte uns in unsere Ruhestätte zurück». Fast hätte ich die Stelle überlesen, so bescheiden steht sie da. Dennoch hatte Schmidt-Hannisa natürlich recht und seine Wiedergabe der Szene war äusserst zutreffend. «In umgewandtem Schlafrock und also für uns verkleidet genug» entspricht genau dem Umstand, dass der Sohn den Vater zwar erkennt, sich aber dennoch von der fremden Gestalt (dem Gespenst bei Goethe, dem Skelett in meiner Geschichte) zu Tode erschrecken lässt. Der Nächste und der Fernste, Vater und Gespenst, Leben und Tod, fallen in eins und werden, gerade in dieser Dualität, fürchterlich real.

Was lernen wir aus dieser Geschichte? Literatur entfaltet sich in den Köpfen und Herzen der Leser. Zum einen entfaltet sich Geschriebenes, aus dem Gedächtnis wiedergegeben, oft eindrücklicher als beim ersten Lesen. Dieses Nacherzählen erinnert uns daran, dass Lesen immer ein Übersetzungsvorgang ist, bei dem es stets darum geht, die Bedeutung, den Kern des Geschriebenen zu verstehen und weiterzutragen. Zum anderen zeigt es, dass aus Erzählungen weitere Erzählungen entstehen, selbst wenn der Schriftsteller, in diesem Beispiel ich, gar nicht bemerkt, wie er (in diesem Beispiel sie) beim Erfinden auf Bestehendes, Gelesenes reagiert.

Geschichten bringen Geschichten hervor. Geschichten schreiben sich fort. Woher sie kommen, wie sie gehen und wohin und was sie, diese Ausgeburten des Geistes, im Leben auslösen und umgekehrt: Was das Leben in den Geschichten auslöst, das ist das wirklich Wunderbare an Literatur.

Dazu gehört auch dieser kurze Nachtrag: Beim Vorlesen des «Nylonkostüms» in Galway begegnete ich in der Figur des Jungen meinem eigenen sechsjährigen Sohn, der jedoch damals, als ich die Geschichte schrieb, noch ein Baby war. Ich konnte ihn also gar nicht beschrieben haben. Umgekehrt ist es unwahrscheinlich, dass er mir den Gefallen tat, so zu werden wie eine meiner literarischen Figuren (den «Gefallen» bitte an dieser Stelle ganz ernst nehmen!). Er ist er, ganz einfach, und so einzigartig wie jeder Mensch. Und dennoch habe ich ihn in dieser Geschichte zweifellos wiedererkannt, täuschend echt und eindeutig. Und das geht mir beileibe nicht mit jedem Sechsjährigen in jeder Geschichte so. Ich finde das beunruhigend und beruhigend zugleich.

Ausgezeichnetes Werk: «Eins im Andern» (Graz/Wien: Droschl, 2015)

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