Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

ÜberSETZEN oder ÜberTRAGEN?

ÜberSETZEN oder ÜberTRAGEN?
Hartmut Fähndrich, fotografiert von Mario Del Curto.


Wenn vom Übersetzen im Zusammenhang mit dem Arabischen die Rede ist, gibt es allemal leuchtende Augen, und zwar auf beiden Sprachseiten, der arabischen wie der deutschen. Denn einige der «Höhepunkte» in den beiden Kulturen sind unauflöslich mit der Aktivität von Übersetzern verbunden. Zwei davon sind wesentliche Wendepunkte in der Geistesgeschichte der Menschheit.

 Da ist erstens die Übersetzungsepoche, die mit dem Kürzel «Bagdad» versehen werden darf: Nachdem die arabisch-islamische Eroberung der Region im 7. und 8. Jahrhundert eine neue Gruppe zu Herrschern über eine alte Kulturregion gemacht hatte, sahen sich die «Neuen» gezwungen, das vorhandene schriftliche Kulturgut übersetzen zu lassen (sic!), um es zu  verstehen und ihre eigene Macht zu sichern: die Notwendigkeit, argumentative Stütze für ihre neue Religion, den Islam, zu erhalten; die Überzeugung, dass der Koran zum Erwerb von Wissen, wo auch immer, ermutige; und die Gewissheit, dass Wissenschaften wie Astrologie, Astronomie, Medizin oder Alchemie auch praktischen Nutzen hätten – all das drängte die Herrscher im neu gegründeten Bagdad besonders vom Anfang des 9. Jahrhunderts an zu allerhand Übersetzungsaktivitäten. Aus dem Griechischen, oft über das Aramäische, wurde ins Arabische, die Sprache der neuen Herren, übersetzt: die Schriften von Hippokrates und Galen, diejenigen von Aristoteles und Plotin und vieles andere. Diese fast hektisch zu nennende Übersetzungstätigkeit fand gegen Ende des 10. Jahrhunderts mehr oder weniger ihren Abschluss, weil das Greifbare übertragen war und die neue Kultur ihre Eigendynamik entwickelt hatte.

Da ist zweitens die Übersetzungsepoche, die mit dem Kürzel «Toledo» versehen werden darf. Und wieder sind politisch-militärische Auseinandersetzungen die Grundlage: Zur europäischen Expansion zur Zeit der Kreuzzüge (12. und 13. Jahrhundert) gehört auch die Reconquista in Spanien, das heisst, die allmähliche Zurückdrängung und dann die Vertreibung der Araber von der Iberischen Halbinsel. Daran beteiligt waren auch Mittel- und Westeuropäer als Krieger, als Abenteurer, als religiöse Eiferer und als Gelehrte. Zu dieser «Internationalisierung» der innerspanischen Konflikte traten «günstige» demografische Verhältnisse: eine Gesellschaft , die aus drei Religionen bestand, nicht drei Kulturen, wie man heute sofort sagen würde, Christen, Muslime, Juden; eine Gesellschaft auch mit mehreren Sprachen: Arabisch (in Schrift- und Dialektversion), romanische Umgangssprachen, Lateinisch als Kirchen- und Gelehrtensprache und schliesslich noch das Hebräische. Diese Konstellation ermöglichte die Übersetzung einer grossen Anzahl wissenschaftlicher (insbesondere medizinischer und astronomischer) und philosophischer Werke. Es waren Schriften, die Jahrhunderte früher aus dem Griechischen ins Arabische übertragen, oder solche, die auf Arabisch verfasst worden waren. So kamen Aristoteles und Galen, Ptolemäus und Dioskurides, aber auch Rhases, Avicenna und Averroes auf Lateinisch nach Europa und unterstützten die dort angelaufene «Modernisierung».

Doch auch im deutschen Sprachraum bekommt man glänzende Augen, wenn man vom Übersetzen im Zusammenhang mit dem Arabischen hört oder wenn von arabischer Literatur die Rede ist. Aber nicht, weil man an die relativ wenigen zeitgenössischen Autorinnen und Autoren denkt, die auf Deutsch greifbar sind, sondern weil einem sofort jene Jahre zwischen 1700 und 1850 einfallen, deren herausragender literarischer Vertreter ab 1770 Goethe war. Eine Zeit, die mit dem Kürzel «1001 Nacht» versehen werden darf und in der ein noch immer gängiges «Arabien- und Araberbild» entstanden ist.

Auch hier liegt eine politisch-militärische Entwicklung zugrunde: die langsame Zurückdrängung der «türkischen Gefahr» auf dem Balkan (ab 1683, der zweiten Belagerung Wiens durch die Osmanen). So entstand die Atmosphäre für einen «lockereren» Umgang mit «dem Orient». Und in der Folge wurde aus verschiedenen Stücken ein Werk der Weltliteratur «kreiert» und verbreitet und gleichzeitig das Bild des Orients geschaffen. Die Geschichte von «1001 Nacht» in Europa, im Westen, ist die Geschichte des Einflusses einer Übersetzung. Diese hat nach der ersten Übertragung durch Antoine Galland zu Beginn des 18. Jahrhunderts nicht nur unzählige Nachübersetzungen angeregt, sondern auch zur Bearbeitung und Verarbeitung sogenannter orientalischer Stoffe geführt. Das war zur selben Zeit, als europäisches Militär, europäische Politik und europäische Wirtschaft immer weitere Bereiche der arabischen (und der übrigen) Welt unter ihre Kontrolle brachten. Die Begriffe «Weltwirtschaft» und «Weltliteratur» sind übrigens zur selben Zeit entstanden, nämlich in den 1820er Jahren.

Doch egal, unter welchen politischen, militärischen oder wirtschaftlichen Gleich- oder Ungleichgewichten Übersetzung angefertigt wird, der Vorgang bleibt immer derselbe. Er lässt sich, leicht mechanisch, an sechs Bedingungen knüpfen:

  1. In einem später dann Herkunftssprache genannten Idiom müssen Werke verfasst und greifbar sein, die dadurch, dass sie etwas Besonderes (über ihre Herkunftsregion oder aus ihrer Herkunftskultur) aussagen, die Weitergabe, also Übersetzung, in einen anderen Sprach- und Kulturbereich als wünschenswert erscheinen lassen.
  2. Es müssen sich Personen finden, die die besonderen Qualitäten solcher Werke erkennen und einschätzen können und die willens und imstande sind, ihre Einschätzungen plausibel und überzeugend vorzutragen, um dafür die Aufmerksamkeit sowohl im Bereich der Herkunfts- als auch im Bereich der Zielsprachen zu wecken.
  3. Es müssen sich, und das ist zentral, Personen finden, die in der Lage sind, Texte von einer Herkunfts- in eine Zielsprache zu übertragen, die also mindestens zwei Sprachen so weit beherrschen, dass sie einen Text sprachlich und inhaltlich erfassen und das Erfasste in der anderen Sprache korrekt, verständlich und möglichst auch ansprechend wiedergeben können.
  4. Es sind Verlage vonnöten, die sich auf das Wagnis einlassen, übersetzte Texte in dem von ihnen betreuten Kultur- und Sprachraum zu verlegen (das ist nicht selten ein zusätzliches Wagnis, wenn diese Texte aus «weiter entfernten» Sprachen übersetzt sind) und für die Verbreitung zu sorgen, damit also die Herkunftskultur eines Textes bekannt zu machen.
  5. Es müssen sich wiederum Personen und Institutionen finden, die die Verlage bei diesem Vorhaben unterstützen, indem sie die übersetzten Verlagsprodukte (also Bücher) über verschiedene Kanäle, zumal über die Print-, die Hör- und die Sichtmedien, kenntnisreich und überzeugend präsentieren, um Lust darauf zu erzeugen.
  6. Schliesslich ist ein interessiertes Lesepublikum nötig, das über einen offenen Horizont und einen Bildungsstand verfügt, der über den eigenen Kulturraum hinausreicht und der es begierig macht, das Besondere zu erfahren, das das Werk aus seiner Herkunftsregion mitbringt und das als Bereicherung wahrgenommen werden kann.

Eine Kette ist bekanntlich so stark wie ihr schwächstes Glied, doch dieses in diesem Zusammenhang zu identifizieren, ist nicht gerade einfach, da eine Frage der Perspektive, der wiederum ein ganzes Sammelsurium von historisch gewordenen Überzeugungen, Urteilen, Vorlieben oder Ablehnungen zugrunde liegt.

Probleme im Zielmarkt

All das müsste auseinandergenommen und eingeordnet werden. So könnte man dann vielleicht die Frage beantworten, warum von der nicht gerade geringen literarischen Produktion in der arabischen Welt heute so wenig nach Europa und, besonders in letzter Zeit, so wenig auf den deutschsprachigen Buchmarkt gelangt.

Man kann das Problem von seinem Endpunkt her aufrollen, der deutschsprachigen Leserschaft. Warum stürzt sich diese nicht gieriger auf die verhältnismässig wenigen Titel der zeitgenössischen arabischen Literatur, die auf Deutsch vorhanden sind? Warum ermutigt sie nicht durch Kauf und Lektüre die Verlage, etwas aktiver bei der Publikation dieser Literatur zu werden? Warum widerstehen diese, also die Verlage beziehungsweise die dortigen Literaturverantwortlichen, so hartnäckig Vorschlägen, die ihnen von Seiten von Fachleuten zugetragen werden, und spitzen überhaupt nur die Ohren, wenn ein Vorschlag von einer Literaturagentur kommt? Warum gelingt es den Fachleuten nicht, ihre Anliegen, oder sagen wir lieber: die unzähligen interessanten Bücher aus arabischer Feder, Verlagen attraktiv zu machen? Sind etwa die Multiplikatoren dieser Informationen nicht entwickelt genug oder nicht hinlänglich mit den internationalen Anpreistechniken vertraut? Oder sollte schliesslich und endlich die zahlreiche literarische Produktion auf Arabisch nicht den internationalen Anforderungen genügen? Und wenn ja, wer legt die entsprechenden Kriterien solcher Anforderungen fest? Gibt es da Regeln, die zu befolgen sind, damit ein Werk in den Genuss einer Übersetzung und der Publikation in fremden Sprachen kommt? Sollte etwa der internationale Bucherfolg oder das Privileg, übersetzt zu werden, allein durch Schreibstile gewährleistet werden, wie sie in Sprachen gepflegt werden, die der unsrigen näher stehen, dem Amerikanischen, dem Englischen, dem Französischen, vielleicht noch dem Schwedischen? Ist es wirklich nötig (wie geschehen), einem marokkanischen Krimiautor nahezulegen, eine Kommissarfigur zu entwerfen, die immer wieder auftritt – wie das eben anderswo auch gemacht wird?

Es muss also schon ein ziemlich weites Umfeld «stimmen», damit Übersetzerinnen und Übersetzer ihrer eigentlichen Aufgabe nachgehen können, der ÜberSETZung – oder doch eher der ÜberTRAGung, als deren Schutzpatron der heilige Hieronymus bestimmt wurde, jener Kirchenvater aus Dalmatien, dessen Übersetzungseifer wir unter anderem die sogenannte Vulgata verdanken, die lateinische Version der Heiligen Schrift. Allgemein bekannter ist er vielleicht sogar noch durch sein inniges Verhältnis zu einem Löwen, der als gezähmte wilde Kraft friedlich zu seinen Füssen lagert.

Die Tätigkeiten von Übersetzerinnen und Übersetzern haben eigentlich andere Bilder ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt, Bilder, die – wiewohl die Einsamkeit der Übersetzerarbeit bekannt ist – weit entfernt sind von jener Gelehrtenstube des heiligen Hieronymus, wie sie Albrecht Dürer verewigt hat: die Brücke zum Beispiel, die man durch Übersetzungen baut, oder den Kahn, den der Fährmann von einem Gestade ans andere rudert. Zugrunde liegt hier immer die Vorstellung der Überquerung von einem nicht überquerbaren Hindernis, dem Fluss.


Mythos Übersetzen?

Dieses Bild führt, weitergesponnen, zu einem anderen Heiligen, der zwar nichts mit Textarbeit, dafür aber viel mit ÜberSETZen und besonders mit ÜberTRAGen zu tun hat. Es ist der heilige Christophorus, Tausende von Malen in der christlichen Kunst dargestellt, jener Mann, dessen historische Existenz man auf das späte 3. Jahrhundert ansetzt und der, der Legende nach, als Träger durch die Untiefen eines Wassers arbeitete. Bei ihm erschien eines Nachts Christus als Kind mit der Bitte, hinübergetragen zu werden. Christophorus tat, was sein Metier war: Er lud sich das Knäblein auf die Schulter, in der Erwartung, ein leichtes Stück Arbeit zu haben. Doch es kam anders: Unterwegs wurde die Last immer schwerer und der Träger erreichte nur japsend und mit Mühe das andere Ufer.

Wenn man dieses Bild an sich nimmt, wenn man absieht vom Legendären, Theologischen oder Religionsgeschichtlichen, dürfte es kaum ein eindrucksvolleres für die Tätigkeit Übersetzender geben. Rainer Maria Rilke hat in seinem Gedicht «Sankt Christophorus» Wesen und Aufgabe des Mannes poetisch ausgearbeitet. Vier Zeilen davon skizzieren unübertroffen das Berufsbild Übersetzender:

«So trat er täglich durch den vollen Fluss – / Ahnherr der Brücken, welche steinern schreiten, – / und war erfahren auf den beiden Seiten / und fühlte jeden, der hinüber muss.»

Und dieses Berufsbild schliesst nicht nur den Transport von einem Ufer zum anderen ein, das ÜberTRAGen, sondern auch diejenigen Tätigkeiten, die oben unter Nummer 2 (und vielleicht auch Nummer 5) angesprochen sind: das Scouting, das Bescheidwissen über das, was hinübergebracht werden muss und was auf der anderen Seite «ankommt». Er ist auf beiden Seiten erfahren.

Leider sieht die aufs Tagtägliche heruntergebrochene Realität sehr viel weniger hehr und poetisch aus. Aber es bleibt: der Traum!

Hartmut Fähndrich hat den «Spezialpreis Übersetzen 2016» erhalten. 

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!