Der Rest ist Risiko
Kurze Sätze über Grate
Es war ein Nichts. Die Kletterei lag hinter uns. Beim Abstieg über ein Geröllfeld probierte ich die Beschaffenheit des Altschnees und kann weder sagen wie noch weshalb, doch ich glitt aus und wurde extrem schnell extrem schnell. Man könnte auch sagen, ich schoss auf die am Ende des Firnfelds wartenden Felsblöcke hinab. Pickel, Helm, Steigeisen gut im Rucksack versorgt, schlug ich ungebremst in blockigen Stein. Ab hier abweichende Versionen. Während ich Schussfahrt erinnere und das Aufschlagen der Füsse, sprechen mein Begleiter und kleinere Wunden davon, dass mich der Aufprall in die Luft geschleudert hatte, ich mich einmal überschlug und dann liegen blieb. Kein wilder Schmerz, etwas Schock, also wohl nichts gebrochen. Das viele Blut auf den Steinen unter mir schien unerklärlich, dann entdeckten wir ein kleines Loch unterhalb meines Knies, aus dessen Grund es weiss heraufleuchtete. Wir beendeten das mit einem Druckverband. Irgendwann stand ich dann auf, und mein rechtes Fussgelenk kippte weg mit einem Geräusch, das ich niemandem beschreiben will. Auch halte ich mich zurück mit der emotional-dramatischen Darstellung. Man kennt sie. Man hat sie oft gelesen. Sie ist literarisches Instrument geworden, zu dem jeder schreibende Bergsteiger greift, um zu überhöhen, wofür ein jeder persönliche Gründe hat.* Ich selbst mochte die trockene Zusammenfassung des Chirurgen: Aha, Hochenergie-Trauma – Motorradunfall (kurzer Seitenblick zum aufgeschnittenen Schuh) oder halt Bergsport. Ich war gefallen. Aber wer das nicht aus der Eigernordwand heraus tut, sondern auf einem banalen Eishang, der stürzt doppelt ins Leere. Denn neben alpinen Herausforderungen, mit denen man
mit Training und Verstand umzugehen lernt, gibt es noch etwas, das hinter dem Begriff Restrisiko lauert. Und das Restrisiko ist eine Bitch. Sie ist der Felsgriff, der jederzeit herausbrechen kann, der Stein, der sich unter dem Schuh dreht, die Wurzel, die unter hohem Gras zugreift. Immer da, nie sichtbar. Wem dieses Restrisiko mal die Glieder zerschlagen hat, der schaut im lieblichen Hang nur noch lockende Heimtücke, dem kann aus der Bergwelt ein Minenfeld werden. Gegen offensichtliche Gefahren kann man sich schützen, aus Büchern** und Erfahrung lernen. Man kann sie meistern oder demütig umkehren, um wiederzukehren, wenn man ein besserer Bergsteiger geworden ist, ein würdigeres Gegenüber. Aber mit einem Minenfeld kann sich keiner messen. Es bleibt nur die Erkenntnis, dass einen keine Erkenntnis davor schützen kann. Geblieben ist mir auch, dass ich jedes Mal, wenn ich die Augen schliesse, wieder das Eisfeld hinabschiesse. Und als ich vor ein paar Tagen
mit meiner Kleinen über einen flachen Hügel geschlittelt bin, wurde mir kurz schlecht. Ob ich
je wieder Lust auf Bergbücher haben werde? Sie erfahren es demnächst an dieser Stelle. Fest steht nur eins: sobald ich wieder gehen kann, werde
ich sofort wieder gehen. Der Angst muss man sich stellen. Nur schon aus Angst vor den Alternativen. Minigolf? Federball? Zumba?
Markus Rottmann
ist freischaffender Texter in Zürich. Zuletzt sind von ihm die Bücher «Calanca – Verlassene Orte in einem Alpental» (gemeinsam mit dem Photographen Oliver Gemperle; Benteli, 2010) und «Black Island» (gemeinsam mit dem Illustrator Thomas Ott; Hammer-Verlag, 2013) erschienen.
* Ich am Berg, Gipfelerfolge Himalaya, Ego am Limit etc., diverse Verlage.
** Allen voran: Winkler/Brehm/Haltmeier: Bergsport Winter – Technik, Taktik, Sicherheit. Bern: SAC, 2012, div. Überarbeitungen.