Die Liebe ist…
I. Zu meinen Füssen lag ein Karton mit den Überresten einer hässlichen Trennung. Sah aus, als hätte ich damals alles, was auf dem Nachttisch war, mit einem ganzarmigen Sweep in die Schachtel gepflügt. Bloss weg hier! Neben Lampe, Taschentüchern, Tigerbalsam, Würfeln und einem Korkenzieher fand sich in der Schachtel auch ein Büchersortiment: ein Englisch-Russisch-Phrasebook, zudem […]
Zu meinen Füssen lag ein Karton mit den Überresten einer hässlichen Trennung. Sah aus, als hätte ich damals alles, was auf dem Nachttisch war, mit einem ganzarmigen Sweep in die Schachtel gepflügt. Bloss weg hier! Neben Lampe, Taschentüchern, Tigerbalsam, Würfeln und einem Korkenzieher fand sich in der Schachtel auch ein Büchersortiment: ein Englisch-Russisch-Phrasebook, zudem ein Westafrika-Reiseführer, «Iʼll be with you in a squeeze of a lemon» von Elizabeth David, der «inspirierendsten Kochbuchautorin unserer Zeit» (1960), und «Phaidon – Unsterblichkeit der Seele» von Platon. In zwei Büchern steckten zu Buchzeichen zusammengeklebte Baggage-Check-Tags. Das war dann etwas komisch: Erstens waren es Tags der Austrian Airlines. Zweitens befand sich das eine in Sigmund Freuds «Five Lectures on Psycho-Analysis», das andere in Jürg Federspiels «Die Liebe ist eine Himmelsmacht», ausgerechnet in der Fabel vom glücklichen Psychiater.
Eine Frau, Brigitta Esel, 32, Gattin eines Börsenmaklers, geht darin zum Psychiater und berichtet, sie sei Masochistin und verspüre Lust auf Hiebe. Der peitscht sie aus und verlangt das Doppelte des üblichen Honorars. Schon bald kommt sie täglich, der Psychiater wird reich – und noch reicher, als sich seine Patientin scheiden lässt, um ihn zu heiraten. Doch bald gibt’s Komplikationen: Von der Peitscherei bekommt der Mann eine Sehnenscheidenentzündung und muss pausieren. Daraufhin wird sie garstig und erklärt beim Frühstück, sie habe gelesen, Masochismus und Sadismus seien wechselseitig. Von nun an züchtigt sie ihn, was er tatsächlich geniesst. Und sie verrechnet nun die Stunden. Als seine Ersparnisse nach einem halben Jahr aufgebraucht sind, wirft sie ihn dann raus. Sie denke ja gar nicht daran, das Dach oder gar das Bett mit einem Bankrotteur zu teilen.
Schönes Miststück. Vielleicht fiel’s mir auch nur auf, weil ich gerade exzessiv dieses eine Album hörte: Jack Whites «Blunderbuss». Tolles Wort, nicht? Heisst auf Deutsch Donnerbüchse. Oder Steinschleuder. Wären auch schöne Schimpfwörter für all die rabiaten Femmes fatales, deren Vernichtungskampagnen der Sänger auf der Platte zum Opfer fällt. Schritt für Schritt geht’s hinab in die tiefsten weiblichen Niederungen. In einem Song trennt ihm die Frau die Fusssohlen ab, zwingt ihn dann, über Salz zu gehen – und am Schluss ist sie es, die ihn bei der Polizei anzeigt. Wegen Tätlichkeiten, mit einem Lächeln auf den Lippen, eiskalte weibliche Niedertracht. Enter Roger Köppel, denn der ist ja nie weit, wenn es Stereotypen zu zementieren gilt. Wie White thematisiert auch er gerne irrational hassende Frauen, ihre grausame Rachsucht und die Qualen der Männer, die «die Macht der weiblichen Sanktionsarsenale» zu spüren bekommen. Ob zu Geri Müllers Nacktselfie-Affäre oder zum stalkenden ehemaligen Armeechef Nef: Gerne raunt der «Weltwoche»-Chef seinen Mitmännern zu: «Die Liebe ist eine Höllenmacht!»
Eigentlich war ich an dem Tag ja auf der Suche nach einem ganz anderen Buch gewesen. Ein Exfreund hatte am Morgen plötzlich angerufen, irgendein «Out-of-print»-Kunstbuch müsse noch bei mir sein. Dies führte mich erst in die entlegensten Ecken meiner Büchersammlung, dann dazu, dass ich mich darin verlor. Stunden später sass ich im Treppenaufgang zum Dachboden. Mit einem Zaubererhut aus der Verkleidungskiste auf dem Haupt, die Nase voller Staub und diesem Knäuel aus Exfreund, Federspiel, Freud, Jack White und Roger Köppel im Kopf, die die Liebe verhandelten: Himmels- oder Höllenmacht? Es war die Art von spontaner Zufalls- und Assoziationscollage, bei der ich mich frage, ob mir das Leben etwas Wichtiges mitteilen will – oder nur eine lange Nase dreht. Ist Dada Gaga oder eben gerade nicht? Oder waren all diese Fragen überhaupt nur Ausdruck der Sehnsucht nach einer stabilen Sinnhaftigkeit?
Fragen zur Schlusspointe stellten sich bei Fabeln lange überhaupt nicht. Über Jahrtausende, von Aesop bis Luther und La Fontaine, lag bei einer Fabel die Moral der Geschichte stets auf der Hand. Um jegliche Zweifel auszuräumen, wurde den Texten oft ein zusammenfassender Lehrsatz beigestellt. Dann aber kam die Aufklärung und mit ihr Lessing, der die Fabel nicht nur zu einer der wichtigsten literarischen Formen jener Zeit machte, sondern gewaltig an deren Konventionsschraube drehte. Er schrieb Aesop ins Gegenteil um, schickte die Tiere als klassisches Fabelpersonal in Rente, brachte stattdessen Menschen, Ironie und Metaphysik ins Spiel. Oft ist es schwierig, darin überhaupt eine Lehre zu finden, und auf explizite Lebensanweisungen verzichtete er sowieso. Das Ziel seiner Fabeldichtung war nicht mehr nur die ihr zu entnehmende Moral – sondern der Weg, sie zu erlangen. Lessings Werk ist ein eigentlicher Dauerappell, sich geistig anzustrengen.
Heute haben Fabeldichter weniger Chancen auf eine Festanstellung als Auslandreporter, derart marginalisiert ist die Textsorte. Passt auch nicht in eine Zeit, die fast nichts so sehr scheut wie Wahrheiten. Sinnsprüche finden sich noch in Glückskeksen und auf Zuckerpäckchen oder auf Facebookprofilseiten von esoterisch angehauchten Mittvierzigern. Enter Jürg Federspiel, der dem Fabel-Genre mit diesem Buch 1992 ein dramatisches Update verpasste. Der Ton der Geschichten verrät, dass er mit tiefster Überzeugung schrieb, sich dabei aber bestens amüsierte. Der aufklärerische Drive vermengt sich bei ihm mit der puren Lust an der Imagination. In den zwölf Fabeln fährt er ein illustres Figurenkabinett auf, um messerscharf ganz grosse Themen zu bearbeiten: Korruption, Heuchelei, Ungleichheit, vorgeführt durch besoffene Pfarrer, Kinder von Linken und das letzte Känguru. Der gütige Millionär begründet eine Religion, der hässliche Teenager eine Jugendbewegung. Anderswo bekommt es der liebe Gott mit der Macht der Bilder zu tun und hilft sich mit fünfzig Milliarden Milligramm Valium, worauf er von Nietzsche prompt für tot erklärt wird. Ein Irrtum, wie sich zeigen sollte. Der Autor führt seine Leserschaft galant feixend an der Nase herum und zum krönenden Abschluss auch noch das Konzept der Lehrsätze virtuos ad absurdum.
Der Psychiater von vorhin fand nach dem Rausschmiss übrigens einen Job als Hotelbursche in einem luxuriösen Haus. Er nahm sich dabei weniger des Gepäcks als der Psyche seiner Gäste an. Mit pekuniärem Erfolg: Schliesslich verstand er es weiterhin, sie hörig zu machen und ihre Taschen zu plündern. Schon bald übernahm er das Hotel, gründete gar eine Kette quer über die westliche Welt. Er liess Millionäre rausschmeissen – am nächsten Tag kamen sie wieder und zahlten das Doppelte. Als er schliesslich einer der reichsten Männer des Landes war, fühlte er sich endlich frei. Seine erste Tat in Freiheit war, einen Auftragskiller auf seine Mutter anzusetzen. Dann legte er sich bei einem Berufskollegen auf die Couch und starb kurze Zeit später als glücklicher Mann.
Man könnte jetzt Zusammenhänge herstellen zwischen Reichtum und Sadismus oder etwas Schlaues sagen zum selbstbestimmten Menschen, der seine Rolle selbst wählt. Federspiels Lehrsatz aber lautet: «Freud war ein Pionier. Alle Pioniere sind Anfänger.» In diesem Spirit fand ich den Sinn meiner Sitzung auf der Treppe: «Wenn Jack White, Roger Köppel, Jürg Federspiel und Sigmund Freud im selben Text auftreten, wirdʼs keine Fabel, sondern ein Witz.» Oder: «Wenn die Synapsen selbständig Assoziationsketten knüpfen, entstehen nicht immer Teppiche.» Oder: «Ob die Liebe eine Himmels- oder Höllenmacht ist, hängt davon ab, welcher Ex anruft.» Ich könnte mir sogar einen der Federspiel-Aphorismen ausleihen, etwa diesen: «Eine fotografierte Bouillabaisse ist kein Rembrandt, sondern eine fotografierte Bouillabaisse.»
Buch: «Die Liebe ist eine Himmelsmacht» von Jürg Federspiel (Suhrkamp, 1985).