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Die Stadt als Horizont

übersetzt von Maguelone Graf (Mentorat: Yla von Dach)

Die Stadt ist so gross, dass man nicht sieht, wo sie endet. Vom Turm aus, der einst der höchste Wolkenkratzer Lateinamerikas war (wie die beiden Empfangsdamen im Chor oder im Echo versichern), kann man bei klarem Wetter am Horizont die Gipfel der Vulkane erkennen. Doch ehrlich gesagt: Klares Wetter gibt es hier nicht oft; zwischen der Sonne und uns ist immer ein Schleier, eine Art grauer Krepp, eine Mischung aus Braut- und Witwenschleier. Wir sind zwar keine Londoner, aber wie die Londoner nennen wir ihn (weil es uns bestimmt ein wenig an Phantasie fehlt, oder an Wortschatz) Smog. Ich habe die Stadt nie verlassen. Ich habe nie etwas anderes gesehen als diese unendliche Stadt, abgesehen von den zwei Vulkanen, wie gesagt, bei klarem Wetter. Oft bedauern mich die Ausländer, ermutigen mich fortzugehen, und sei es nur einen einzigen Tag, um den Ozean zu sehen, die Sierra oder die Wüste im Norden. In der Überzeugung, dass jeder eines Tages die Erfahrung der Ewigkeit machen muss, ermahnen sie mich, hinauszugehen, ein Mal in meinem Leben, um die Dünen zu betrachten, das Hochgebirge oder den weiten Ozean («Und es ist ja so hübsch!»). Sie wollen nicht hören, dass mir die Ewigkeit durchaus ein Begriff ist, dass ich mich, wenn es Nacht geworden ist, bloss hinten in ein Taxi zu setzen und den Fahrer zu bitten brauche, mit hundert Kilometern pro Stunde während langer Minuten einen der städtischen, vor lauter Gradheit unendlichen Boulevards zu verschlingen. Dass es mir, einfacher noch, genügt, auf diesen Turm zu steigen und auf die Stadt zu schauen, die nie aufhört. Sie können mich nicht verstehen, weil sie zutiefst in ihrer Seele (diesem komischen Ding, womit wir ausgestattet zu sein glauben) fasziniert sind von der Natur (oder von «Mutter Natur», wie sie diese manchmal etwas pathetisch nennen); sie können sich nicht vorstellen, dass man anderswo das Gefühl von Unendlichkeit und sein Glück finden kann, weil sie gewisse Märchen vergessen haben. Nein, ich werde die Stadt nie verlassen, denn in meiner eigenen Welt, oder in meinem eigenen Märchen, ist nichts anderes von Bedeutung; um es schonungslos zu sagen: der Rest ist entbehrlich.

Wenn sie zum allerersten Mal auf den Turm steigen, sind die Ausländer sehr beeindruckt, ja sogar völlig verblüfft. Sie finden es beängstigend, brauchen Kraftausdrücke, behaupten, sie seien «agoraphobisch». Manchmal reden wir miteinander, zwischen zwei Fotos oder zwei Ausrufen («Hast du das gesehen!?»), man wechselt ein paar Worte, teilt Welten, die nichts gemeinsam haben. In Wirklichkeit sei der Turm gar nicht so hoch, sagen sie mir (überzeugt von meiner Unwissenheit), im Vergleich zu denen, die im Norden errichtet werden, auf der anderen Seite des wilden Flusses, oder im Vergleich zu denen, die man im Orient zu sehen bekommt. Meiner Ansicht nach hat er die perfekte Höhe. Als hätten wir die Lehre aus Babel gezogen, versuchen wir nicht mehr, den Himmel herauszufordern, denn wir wissen genau, dass das Streben nach dem unendlich Hohen zum Scheitern verurteilt ist. Das sagt die Bibel, in nur neun Versen. Sie glauben mir nicht? Genesis, Kapitel XI: Da haben Sie die ganze Geschichte, das Ende des Traums von der Vertikalität… Eigentlich ist es nicht so wichtig, dass es in der Bibel steht, das kann einem egal sein, man kann dran glauben oder nicht, worauf es ankommt ist, was ich Ihnen sage, die reine Wahrheit, Ehrenwort, ich schwör es Stein und Bein, wie die Kinder sagen (die dir auf der Strasse eine oder zwei Zigaretten abluchsen). Und das ist es, was ich Ihnen sage, mit Tremoli, um überzeugender zu sein, auch pathetischer (ein bisschen schwärmerisch, wie es sich für einen Propheten gehört), dass der Traum von der Vertikalität immer enttäuscht werden wird, im Gegensatz zu jenem der Horizontalität, worüber der Mensch gesiegt hat, wie diese Stadt bezeugt. Und weiter sage ich, dass diese Stadtlandschaft alle Wüsten der Welt wert ist, und alle Ozeane, weil sie tiefgründiger ist, weil es DIE GESCHICHTE gibt, DIE ZEIT (alles in Grossbuchstaben, das macht mehr Eindruck), und Hände voller Dreck, Teer und Federn.

Nun, um sie zu betrachten, genügt die Höhe dieses Turms vollauf. Von hier aus sieht man den bewaldeten Park des Kunstmuseums (Mutter Natur als Zoo in der Stadt erwartet Ihre Erdnüsse). Man sieht die Warteschlange vor den Eingangstüren (die Menschen wie Ameisen). Auf der anderen Seite der Grosse Platz, der Platz der Kathedrale, der Paraden und der Fahne. Jeden Morgen die gleiche Maskerade: Soldaten ziehen die Nationalfarben am Mast hoch, lassen sie jeden Abend wieder runter. Man klammert sich eben an die Symbole, die man hat… Eine Fahne zum Beispiel, so simpel ist das (doch eine Fahne ist nie sehr stabil, immer etwas flatterig). Diese Fahne war es, die ich betrachtete, an jenem Morgen, als sie auftauchte, ausser Atem vom Treppensteigen mit ihrem langen Paket. Als sie mich erblickte, wie ich so an der Brüstung lehnte, sagte sie «Oh!». Sie hat nur «Oh!» gesagt. Niemand sagt «Oh!», da bin ich mir sicher, ausser in Büchern. Sie allerdings hat es gesagt, und zwar sehr deutlich. Zuerst hat sie sogar nur das gesagt. Wir haben einander ein paar Sekunden lang beobachtet, und dann habe ich es mir nicht verkneifen können, zu antworten: «Das ist ja lächerlich, niemand sagt ‹Oh!›. Aus welchem Buch kommen Sie?» Sie zuckte anmutig mit den Schultern und sagte: «Komischer Einstieg.» Es schien ihr unangenehm zu sein, mich hier anzutreffen. Sie stand da, ein paar Meter von mir entfernt, vor der Treppe, ihr Paket unterm Arm. Dann ist sie nähergekommen, hat das Bündel abgelegt und sich gleich neben mir gegen die Brüstung gelehnt. Ich hörte, wie ihr Herz klopfte, heftig, wahrscheinlich wegen der Treppe. Wir haben mehrere Minuten lang nichts gesagt. Wir blickten hinunter oder dann zum Horizont. Ich hörte sie seufzen, als ob sie zögerte, sich mir anzuvertrauen (oder vielmehr, wenn ich ehrlich sein will in der Interpretation, als wollte sie mich verschwinden sehen). Dann hat sie gemurmelt: «Wirklich gross, die Stadt.» Worauf ich spontan antwortete: «Mehr als das: unendlich.» Da sie mich fragend, mit hochgezogener Augenbraue ansah, habe ich ihr die Geschichte von Babel erzählt, denn ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und wollte doch nicht weg. Entgegen aller Erwartung (oder zumindest der meinen) hörte sie mir höchst aufmerksam zu. Sie kannte die Geschichte von Babel nicht. Dabei ist es doch eine schöne Geschichte. Darauf habe ich ihr mit pädagogischem Geschick und Sinn für die Formulierung den Unterschied zwischen der gegebenen und der geschaffenen Unendlichkeit erklärt, der Unendlichkeit der Natur und jener der Stadt. Meine Schlussfolgerung war (Sie werden es erraten haben), dass die zweite als eine Schöpfung verwirrender ist, und majestätischer und auch grandioser (scheuen wir uns nicht, die Dinge beim Namen zu nennen). Die Gläubigen (die Unglaubwürdigen unter ihnen) werden mir vielleicht antworten, dass auch die Natur eine Schöpfung sei, weil es ja in der Bibel stehe, und sogar in der Genesis, die ich eben zitiert habe. Da hält man mich für den Dümmling, und das lass ich mir nicht gern gefallen. Tatsache ist, dass es sehr wohl einen entscheidenden (fast hätte ich gesagt, einen «Wesens-»)Unterschied gibt. Und wenn jemand wirklich die göttliche Schöpfung für bewundernswert hält, müsste er einsehen, dass jene des Menschen es noch in viel höherem Masse ist, denn sie ist ehrlicher, sie hat nichts «Magisches», weil es die Anstrengung gibt und DIE GESCHICHTE (in Grossbuchstaben, wie gesagt, um überzeugender zu sein). Sie hörte mir immer noch mit grosser Aufmerksamkeit zu. Da habe ich ihr gesagt, dass ich jeden Tag herkomme, um diesen vollendeten Horizont zu betrachten, und dass ich nie aus der Stadt hinausgegangen bin und dass ich niemals hinausgehen werde, weil mir die Menschen mehr bedeuten als die Götter (die Pointe war, zugegeben, etwas brüsk und etwas pathetisch, aber man muss sich eben kategorisch zeigen können). Vielleicht hielt sie mich für verrückt. Der Gedanke missfiel mir, also fragte ich sie schroff, was sie hier tue. Sie antwortete mir mit klopfendem Herzen, mit dünner Stimme: «Ich bin gekommen, um zu fliegen.» Das war hübsch gesagt (was mich nicht daran hinderte, Zweifel zu hegen). Dann hat sie das lange Bündel aufgeschnürt, das sie mitgebracht hatte. Darin, in Seidenpapier verpackt: ein Paar Flügel. Flügel, grau wie der Schleier des Himmels, gefertigt aus Federn, Stoff und Kaffeesäcken, aus Riemen und Schnurstücken und einem Eisengerüst. Sie hatte einen triumphierenden Blick, als sie mich so verblüfft mit hängenden Armen dastehen sah. Sie befestigte die Flügel an ihrem Rücken, ohne meine Hilfe, weil ich noch völlig verdattert war (das heisst: «verzaubert», um einen Ausdruck zu gebrauchen, der mich weniger dumm hinstellt). Sie ähnelte ein bisschen diesen Marmorengeln, die man auf den Postkarten des argentinischen Friedhofs La Recoleta sieht. Verspielter zwar, auch weniger grotesk, kindlicher vielleicht, vor allem weniger steif: lebendig. Als ich mich wieder gefasst hatte, begriff ich, dass sie tatsächlich die Absicht hatte, sich von der Plattform des Turms in die (ganz und gar relative) Leere zu stürzen. Man kennt diese Geschichten, wo der Held zuletzt den angehenden Selbstmörder glücklich daran hindert, sich das Leben zu nehmen, und alles wird gut (Kamerafahrt rückwärts, Nachspann einblenden). Ich wollte keine Geschichte dieser Art, sie gehen mir auf die Nerven. Leider wählt man nicht immer die Geschichten, die einem das Leben beschert, und ich hatte lediglich zwei Möglichkeiten: in die Rolle des guten Samariters zu schlüpfen, die mir angeboten wurde, oder diese abzulehnen und sie sterben zu lassen. Beide Märchen sind bekannt und, leider, so abgedroschen… Von da an (ihrem schönen Lächeln, ihrer zarten Frische und ihren Silberflügeln zum Trotz) habe ich es ihr verübelt, genau zu der Stunde heraufgekommen zu sein, als ich da war. Es wäre mir lieber gewesen, sie hätte einen anonymen Zeitpunkt gewählt. Ich sagte: «Wenn man sich aus dieser Höhe hinunterstürzt, stirbt man anscheinend, noch bevor man die Erde erreicht, weil das Herz stillsteht.» Dann habe ich von Ikarus gesprochen. Sie mochte Ikarus nicht (sie hatte ganz recht: Ikarus ist ein Dummkopf). Also schwieg ich; ich wandte die Augen von ihrer kindlichen Freude ab, um auf die Stadt zu schauen. Endlich, als es Zeit war, zu gehen, sagte ich zu ihr: «Viel Glück» (auch wenn das Glück natürlich überhaupt nichts mit der Sache zu tun hatte). Ich stieg wieder hinunter.

Ich wusste nicht, was ich von dieser seltsamen Begegnung halten sollte («Es ist die Geschichte von zwei Verrückten auf einem Turm…»). Wie dem auch sei; am nächsten Tag, als ich hinaufstieg, über die Treppe, war sie immer noch da, ihre zwei Flügel am Rücken, mit ihrem immer noch klopfenden Herzen. Sie wartete auf mich: «Dann stimmt es also, Sie kommen jeden Tag?» Ich nickte. Es wäre mir lieber gewesen, sie hier nicht wiederzufinden. Sie sagte zu mir: «Wissen Sie, Ihre Geschichte von Babel und den beiden Unendlichkeiten, ich habe viel daran gedacht, ich möchte sie gern ein zweites Mal hören, bitte, erzählen Sie sie mir noch einmal.» Etwas unwillig habe ich es getan, weil es das war, oder wieder hinunter, da gab’s keinen anderen Ausweg. Danach haben wir uns Seite an Seite mit den Ellbogen auf die Brüstung gestützt. Sie war schön, die Unendlichkeit (so schön wie ein Gemeinplatz). Wir waren unendlich klein. Ich habe sie gefragt: «Und, wann werden Sie sich entschliessen, auszufliegen?» Ich wollte ihr klarmachen, dass sie nicht auf mich zählen sollte, um sie vom Springen abzuhalten. Sie hat sich ein bisschen nach vorn gebeugt, ihr Blick löste sich vom Horizont, um sich in den Asphalt am Fuss des Gebäudes zu versenken (denn, wie gesagt, die Leere ist hier relativ). Sie hat mir von der kleinen Meerjungfrau erzählt, die sich ins unendliche Meer stürzt und zu Schaum wird. Ich kannte diese Geschichte nicht sehr gut. Sie war ihrer Ansicht nach so schön wie die von Babel. Und sie, die sie doch besser kannte als ich, sie wollte, dass ich sie ihr erzählte. Dazu war ich, so wie die Dinge lagen, vollkommen ausserstande (die Phantasie vermag nicht immer die Unwissenheit wettzumachen). Doch als ich wieder ging, an jenem Tag, versprach ich, ihr das Märchen der kleinen Meerjungfrau am nächsten Morgen zu erzählen. Ich würde es über Nacht lernen, wie man seine Hausaufgaben macht.

Auf dem Heimweg habe ich also in einem Buchladen haltgemacht, um das Buch zu kaufen (was, nebenbei gesagt, auf dem Ozean, in der Wüste oder auf dem Gipfel eines unbewohnten Berges nicht möglich gewesen wäre; endgültig, die Unendlichkeit der Stadt entspricht mir viel besser als jene der Natur: ohne jedes Zögern wähle ich die Kultur). Am Abend habe ich Andersens Märchen gelesen. Es ist schön vor lauter Traurigkeit. Beim Lesen habe ich oft an sie gedacht, an ihr klopfendes Herz und ihre silbernen Flügel. Ich konnte es kaum erwarten, ihr diese Geschichte zu erzählen, die sie schon kannte. Am frühen Morgen habe ich einen frisch gepressten Orangensaft gekauft und ein paar Kekse, um sie ihr zu bringen. Um rascher oben zu sein, bin ich mit dem Lift hinaufgefahren, während die verdutzten Empfangsdamen vor Staunen die Münder unter ihren stolzen blauen Schirmmützen nicht mehr zubrachten. Oben, an der Brüstung, standen die zwei Flügel in der Farbe des verschleierten Himmels, doch diejenige, die sie am Vortag noch mit klopfendem Herzen getragen hatte, war weg. Von einer leichten Beklommenheit ergriffen, blickte ich nach unten, aber nichts hatte sich verändert. Ameisengleich gingen die Menschen an ihre Arbeit. Auf dem Platz, vor der Kathedrale, hissten sie die Fahne. Auf der anderen Seite standen sie Schlange vor den Türen des Kunstmuseums. Wo war sie hin? Ich schaute die Flügel an, die geduldig, sorgfältig, vielleicht liebevoll zusammengebastelt waren.

Ich schaute zum Horizont. Smog hing über der Stadt. Ich schaute die Flügel an, grau wie der Horizont. Ich habe ihnen Andersens Märchen erzählt (sie machten sich nicht viel draus). Die andere kam nicht wieder. Da habe ich das Buch genommen, um es an den Flügeln festzubinden, und habe sie heftig dem Horizont entgegengeschleudert. Sie begannen zu schlagen, wie ihr Herz. Bei diesem Anblick sagte ich: «Oh!» Und sogleich spürte ich irgendwo hinter meinem
Rücken meinen spöttischen Blick, der sich über diesen Ausruf lustig machte.

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