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Die unerträgliche Leichtigkeit des Genusswanderns

Sätze über Grate

Chefredaktor: «Markus, ich will dir ja nicht dreinreden, …aber ich muss.»

Kolumnist: «…»

«In der Höhe ist der Sommer frisch, der Schnee liegt sicher in den Stauseen, die Alpwiesen blühen, beste Zeit also, die Wanderschuhe zu schnüren…»

«…und in deine Tessiner Berge zu ziehen.»

«…um die Neuauflage von ‹Gipfelziele im Tessin› zu zerpflücken.»

«Versündige dich nicht.»

«Keine Sorge, …das wirst du tun.»

«Deine Wanderbibel kritisieren?!»

«Ankers Bücher sind nicht Wort Gottes.»

«Immerhin die Worte eines Papstes, und der ist unfehlbar, auch wenn er fehlt.»

«Das gute Kartenmaterial fehlt.»

«Ich soll ihm also Ungenauigkeit vor­werfen? Dem Anker?! Der Mann merkt sogar, wenn Franz Hohler in der Beschreibung einer Selbstversorgerhütte den Farbton des Milchkacheli nicht trifft.»

«Frühere Ausgaben bestanden aus fünfzig präzise recherchierten ‹Touren mit Farbabbildungen› und so weiter. Im Nachfolger waren es schon sechzehn mehr, und heute? Achtundachtzig! Da sind nun Spaziergänge drin, … Monte Caslano, ein Naturlehrpfad mit Schokoladenfabrik. 526 Höhenmeter. Und hier, beste Wanderzeit: ganzjährig. Ein solches Prädikat desavouiert doch jede Bergtour.» Blättert aufgeregt. «Siehst du diese Karte?! Die taugt höchstens, um die richtige Autobahnausfahrt zu finden.»

«Landkarten sind allgemein überschätzt. Je schlechter die Karte, desto besser die Wildnis. Viel Schönheit liegt in der blossen Andeutung. Das Auge blickt befreit auf, streift über Matten, Felder und Gesträuch. Wälder sind zum Verirren da. Oh, wie lange träumt’s mir schon vom Wildwanderführer, der dem Naturfreund auf schön gestalteten, aber leeren Seiten allein die klangvollen Flurnamen mit auf den Weg gibt, die Urlaute, betörend und unbestimmt wie Wolken, ein jeder Umweg reich an Geschichten, zerkratzten Beinen, Beinah-Abstürzen und dem, was wir wirklich suchen: Abenteuer.»

«Du irrst.»

«Gerne und oft.»

«Anker eigentlich nie, aber was soll man davon halten, wenn er die lohnendste Tour, die Wanderung vorbei an zwei, nein, drei Seen hinauf zum und hinab vom Pizzo Fiorèra, … also wenn er die jetzt einfach weglässt? Wer die Evolution dieser Wanderführer mitverfolgt, der muss das als Affront empfinden.»

«Ich denke, auch hier ist Anker ganz Avantgardist. Sieh es als visionären Landschaftsschutz. Bevor der Fiorèra zum Ameisenhügel wird, streicht er ihn, streicht ihm also eben nicht den verdienten Honig aufs Haupt. Ein Akt des vorausblickenden Naturschutzes.»

«Wehret den Zuständen der Piazza Grande.»

«Wehret Venedig!»

«Meine Oma hat mir damals die erste Ausgabe gekauft. Es war in Lugano, ich war ein gelangweilter Zehnjähriger und sie sagte: ‹Geh in die Buchhandlung und kauf dir ein Buch!› Da kam ich mit ‹Gipfelziele im Tessin› zurück. Verstehst du, seit ich durch die südlichen Berge streife, wandere ich Daniel Anker nach, und eines Tages reibe ich mir die Augen und finde mich auf den Brissago-Inseln wieder.»

«Ja, ich spüre das Ausmass der Enttäuschung.»

«Na ja! Das meiste gute Zeug ist schon noch drin.»

«Ist aber auch töricht, im Tessin Zuflucht vor Familien und Rentnern zu suchen, oder?»

«Gipfelziele! Stand da. Es gäbe nun einige Touren, die man in die Familienreihe ‹Bergfloh› übersiedeln sollte.»

«Du rätst also vom Kauf ab.»

«Nein, ich rate dringend, aller Ausgaben habhaft zu werden. Nur schon, um am Grottotisch mit Händen und Blasen an den Füssen mitdiskutieren zu können.»

Buch: Daniel Anker: Gipfelziele im Tessin. München: Bruckmann, 1993.Daniel Anker: Gipfelziele im Tessin. Zürich: Rotpunktverlag, 2003. Daniel Anker, Thomas Bachmann: Gipfelziele im Tessin. Zürich: Rotpunktverlag, 2017.

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