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Editorial #18

Liebe Leserinnen und Leser   «Ich zeichne das Gesicht der Zeit.» Dieser Satz stammt aus der Feder des Reportagejournalisten Joseph Roth. Und aus dem Jahr 1926. Das hört man. Denn welcher zeitgenössische Reporter würde auf die Frage nach dem Wesen des eigenen journalistischen Schaffens wohl noch so antworten? Kaum einer, meine ich, denn damit machte […]

Editorial #18

Liebe Leserinnen und Leser

 

«Ich zeichne das Gesicht der Zeit.» Dieser Satz stammt aus der Feder des Reportagejournalisten Joseph Roth. Und aus dem Jahr 1926. Das hört man. Denn welcher zeitgenössische Reporter würde auf die Frage nach dem Wesen des eigenen journalistischen Schaffens wohl noch so antworten? Kaum einer, meine ich, denn damit machte er sich unnötig angreifbar: so schön der Satz klingen mag, im Begriff «Zeichnen» offenbart sich auch ein fiktives, künstlerisches Element, das laut landläufiger Meinung das Handwerkszeug eines verlässlichen Reporters nicht ist. «Wasserdichte Stories» soll der liefern, «Fakten, Fakten, Fakten» – vielleicht noch «Hintergrund», aber doch stets verlässliche, ja sichere, bestenfalls «objektive» Informationen. Roth, der nicht nur ­gefeierter Reporter und Journalist, sondern auch ein ebensolcher Schriftsteller war, wusste um den Spagat, den er tagtäglich zwischen Bericht und Erzählung zu vollbringen hatte, wenn er seine literarischen Reportagen verfasste. Den damals schon zahlreichen Kritikern seiner geliebten Mischform hielt er vor: «Das Faktum und das Detail sind der Inhalt der Zeugenaussage. Sie sind das Rohmaterial des Berichts. Das Ereignis ‹wiederzugeben›, vermag erst der geformte, also künstlerische Ausdruck, in dem das Rohmaterial enthalten ist wie Erz im Stahl, wie Quecksilber im Spiegel.»

 

Die literarische Reportage erfreut sich – obschon man sie aus Kostengründen auch in Qualitätszeitungen immer seltener findet – beim Lesepublikum bis heute grosser Beliebtheit, da sie erzählt und einordnet, das Geschehen subjektiviert. Sie zeichnet, statt bloss abzupausen. Und genau dieser literarische Ansatz in Form einer vielleicht leichten «Übertreibung in Richtung Wahrheit» (Günther Anders) bietet pointierte Ein- und Aussichten, die beim nüchternen, stilistisch gewalzten und unmotivierten 08/15-Bericht unter den Tisch fallen. Gleichwohl ist der Spagat zwischen den Genres ein gefährliches Unterfangen geblieben: wer sich Journalist schimpft, aber fiktive Geschichten erzählt (wie der Journalist Tom Kummer in den späten 1990er Jahren – lesen Sie hierzu unser Online-Spezial auf literarischermonat.ch), stolpert ebenso über die Fallstricke tradierter Betriebs-, Lese- und Publikumserwartungen wie der Schriftsteller, der in seine Erzählung ein Faktum zu viel integriert (s. unser Interview mit Urs Mannhart). Wir machen die Turnübung mit und tänzeln diesen Monat mit einem Schwerpunkt zur Reportage auf dem Grat ­zwischen journalistischem Fakt und literarischer Fiktion.

 

Ihnen wünsche ich – ganz in diesem Sinne – fröhliche Verstrickung in unser Magazin!

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