Eugène:
«Ein unfassbares Land – Die zwanzig Dinge meiner Kindheit»
Was Eugène und seinem Bruder Alex in Bukarest im Herbst 1974 aus einem Postpaket entgegenspringt, sind leuchtende Farben: «Eine rote Schokoladenschachtel mit einem Photo von blauen Bergen an einem grünen See. Strümpfe in einer Verpackung aus unglaublichem lila Karton. Farbstifte mit einem Regenbogen auf dem Schachteldeckel.» Und Spielzeugautos: «Man erkennt die Scheinwerfer, den Auspuff, die Sitze mit Steuerrad und sogar das Armaturenbrett! Ja, ich schwör’s.» Das Paket ist nicht nur der Beweis, dass die Schweiz, wohin die Eltern vor ein paar Monaten aus dem von Ceausescu dirigierten Rumänien geflüchtet waren, ein «unfassbares Land» sein muss, sondern auch, dass sie ihre Kinder nicht vergessen hatten.
Das Postpaket ist eins von zwanzig Dingen im Leben des Westschweizer Schriftstellers Eugène (eigentlich Eugène Meiltz), entlang derer er im Roman «Ein unfassbares Land» von seiner Kindheit und Jugend erzählt. Vom fröhlichen Kulturschock, als er mit sechs Jahren den Eltern endlich nach Lausanne nachfolgen darf, von wo aus nun Rumänien immer unfassbarer erscheint, ein Land, in dessen Fernsehern die Flammen eines explodierenden Autos schmutzig grau waren, während sie hier «gelb wie die Feuerzeugflamme» erscheinen. Und Eugène macht sich auf, diese neue Welt mit ausgelassener Neugier zu entdecken: mit dem rosaroten Panther zu reiten, den «Park der Jugend» zu durchstreifen und zu erfahren, dass die Berge, dieses «Land da oben», schlechtes Schuhwerk hart bestrafen.
Er beschreibt das in einer Sprache und Weise, die die Freuden und Ängste des Kindes, seine geheimnisvollen, intimen und fantastischen Abenteuer ebenso unmittelbar erfahrbar machen wie die Fragezeichen, die die Dinge des Lebens im Teenageralter aufwerfen, und wie das Schmerzliche der Antworten, die sich beim Erwachsenwerden aufdrängen. Die lustvolle Tomatenschlacht mit fünf Jahren, das Nachdenken über die Zufälle des Lebens bei einer Mopedfahrt mit 17 Jahren, der Unfall mit der Honda 250 mit 21 Jahren, der Leichnam des Vaters, der das Ende der eigenen Jugend ein für alle Mal besiegelt. Ob er nun von den zehn Dingen, die gut, oder von jenen zehn, die schlecht für ihn waren, erzählt – Eugène tut es durchwegs leicht, verspielt und zugleich mit einer berührenden Wahrhaftigkeit. Vergleichbar vielleicht der Art, wie er in den 90er Jahren getanzt hatte für die Band Sakaryn, mit der er einige Erfolge feiern durfte, bevor seine Arthritis mit Gewalt zurückkehrte, an seinen Gelenken «frass» und Schreiben zu seinem Beruf wurde.
Gewiss, er hat mit seinem Konzept der zwanzig Dinge das Genre nicht neu erfunden, wie er andeutet, wenn er zu Beginn schreibt, man habe das Problem der Autobiographie bisher von der falschen Seite angepackt. Aber es ist ihm mit dem Kunstgriff dies äusserst glücklich gelungen: aus der neutralen Warte der an sich gleichgültigen Welt der Dinge einen von den eigenen «Hirngespinsten» verschonten und damit schonungslosen Blick auf das Leben, wie es sich für ihn ereignet hat, zu gewinnen.
Eugène: Ein unfassbares Land – Die zwanzig Dinge meiner Kindheit. Zürich: Nagel & Kimche, 2014.