Bern – Chur:
2 Stunden, 26 Minuten
Es ist Mai und tut wie ein Hochsommermonat. Ich fahre nach Chur; dort bin ich vom Verein für die rätoromanische Literatur eingeladen. Ich werde versuchen zu erklären, dass man literarisches Schreiben lernen könne, sagen, dass Talent die Basis sei, aber danach die chirurgischen Eingriffe in die Sprache folgen müssten. Die Präsidentin, Silvana Derungs, bot mir an, mich am Bahnhof abzuholen. Es sind noch zwei Stunden.
Mir gegenüber sitzt eine Frau, die irgendwo im Mittelland ein dickes Buch aus ihrer schönen Leder-tasche zieht. Es heisst «Examinator» oder so ähnlich, jedenfalls bedrohlich. Wir schauen uns kurz an, ich lege mein Buch hin. «Anna und wir.» Der Erstling von Olivia Weibel. Dann lese ich eine kleine Passage vor, damit ein anderer Ton in die Ohren der Frau gelangt: «Wenn Papa sich mit uns beschäftigte, wussten wir, dass er keine grösseren Sorgen im Büro hatte und dass unserer Familie das Geld doch noch nicht ausging…»
Die Frau bedankt sich klatschend für mein Vorlesen und stellt sich als Anna, Studentin, vor, sagt, ihr Vater sei ganz ähnlich gewesen. Nun studiere sie Neuro-chirurgie, um Nervensysteme zu flicken. Was für schöne Namen: Anna, Silvana, Derungs, Unterterzen und Quarten. Als wäre die Reise ein Stück für Orchester. Draussen der Walensee. Dann das Rheintal, von Bergen gut bewacht. Die Bäume auf den kahlen Felsen wie Soldatenriesen. Schutz oder Bedrohung? «Wir konnten uns daran nicht sattfühlen, nicht sattsehen. Mit elf standen wir zum ersten Mal in unserem Leben vor dem offenen Meer und gruben unsere Zehen in den weissgelben Sand.»
«Die Schwester der Erzählerin heisst auch Anna», sage ich ganz leise, um sie nicht wieder aus dem «Examinator» zu erschrecken. «‹Es gibt keine Zufälle›, stand heute morgen auf meinem Teebeutel», antwortet sie ebenso leise, ohne aufzusehen. Am Perron schenke ich Anna das Buch, die mir zum Tausch Schokolade anbietet. Dann verirre ich mich in Chur. Und nach einer weiteren Stunde finde ich Silvana.