Gianna Molinari:
«Hier ist noch alles möglich»
Viel ist nicht mehr los in der Fabrik, wo die junge Frau als Nachtwächterin angestellt ist: Die wenigen Menschen, die noch dort arbeiten, spielen zwar das Spiel des Beschäftigtseins noch mehr oder weniger mit. Aber auch sie wissen: bald ist hier Schluss. Da kommt einigen von ihnen der Wolf ganz gelegen, der sich in der Gegend herumtreiben soll. Oder eher: das Gefühl der Bedrohung, das sich durch den Wolf manifestiert – tatsächlich begegnet ist ihm niemand. Konkretisiert wird dieses unbestimmte Gefühl im Auftrag, eine Grube auszuheben, in den Fallen, die der Koch auf dem Gelände installiert, und als willkommenes Gesprächsthema – es gibt ja sonst wenig zu reden. So wird diese Banalität zu einem Lebensinhalt von ungeheurer Wichtigkeit für die Protagonisten. Festhalten tut sich die namenlose Protagonistin auch an anderen Dingen: ihrem Universal-General-Lexikon zum Beispiel, das sie durch eigene Einträge ergänzt. Obwohl sie es gerade dadurch von seiner ursprünglichen Funktion entfremdet: Dinge mit einer Objektivität zu definieren, an der man sich festhalten könnte. Unter W wie Wolf ergänzt sie: «Der Wolf ist jetzt eine Bedrohung.»
So wie der Mann, der vor einiger Zeit vom Himmel gefallen ist und über den Mitarbeiter Lose in einer Mappe Dinge sammelt – auch er ein Eindringling, den sich wohl niemand gewünscht hat. Keiner weiss, woher er kommt, keiner kennt seine Geschichte. Und doch löst er Diskussionen in der Gesellschaft aus, es bilden sich Lager und Fronten. Vielleicht gerade weil diese Dinge so diffus und schwer fassbar sind, scheint die erste Reaktion der Menschen zu sein, sie mit allen Mitteln und Gegenmassnahmen zu bekämpfen, anstatt sich der Verwirrung zu stellen und sich damit auseinanderzusetzen.
Nicht selten möchte man die Protagonisten schütteln und ihnen zurufen: So lasst es doch sein, das hat ja eh keinen Sinn mehr. Aber auch wenn viele Handlungen wenig zielführend sein mögen, so haben sie doch ihre Berechtigung. Weil sie die Melancholie, die die Tage umhüllt, ein kleines bisschen abschwächen – und damit der Ereignislosigkeit und der Monotonie der Tage entgegensteuern.
Molinaris Sprache ist unaufgeregt und doch eindringlich; passend zu den Menschen, die sie beschreibt: Auch wenn sie nicht viele Worte wechseln, liegt ihnen doch etwas aneinander – nicht nur aus Mangel an Alternativen. Ohne grossen Klamauk schneidet die Autorin grosse Themen an: Wo sind Grenzen, und wer darf sie ziehen? Ist Fremdes tatsächlich bedrohlich, oder sind wir es, die es nicht schaffen, das alles irgendwo einzuordnen? Antworten auf die Fragen finden sich selbstverständlich nicht.
Gianna Molinari: «Hier ist noch alles möglich». Berlin: Aufbau-Verlag, 2018.