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«Ich will nicht, dass du das liest!»

 

Brav legte ich die Tagebücher meiner Mutter damals zurück ins Regal und dachte: schade, aber verständlich. Jede hat ihre Geheimnisse, die es zu wahren gilt. Dass über viele dieser Geheimnisse endlich gesprochen werden soll, findet hingegen Resi, die Protagonistin aus Anke Stellings Roman «Schäfchen im Trockenen» (Verbrecher-Verlag, 2018). Sie hat das Tagebuch ihrer verstorbenen Mutter geerbt, und der einzige Satz, der darin steht, lautet: «Wieder viel zu viel gegessen.»

Resi ist in Rage, nicht nur wegen dem, was diese fünf Worte konkret ausdrücken, sondern vor allem wegen dem, wofür sie sonst noch stehen als eine Art Platzhalter. «Schäfchen im Trockenen» ist ein langer Brief an Bea, Resis jugendliche Tochter. Darin spricht sie über Dinge, die ihre Mutter nie benannt hat: über die Klassenunterschiede von damals und heute, über Eigenheim, Freundschaft und Elternschaft. Die Frage, warum die Mutter weder ihrem Tagebuch noch – ja, schon gar nicht – ihr selbst anvertraut hat, wie anstrengend und beengend es sein kann, Kinder zu haben, wiegt für Resi schwer. Und so schreibt sie nun selbst über die Diskrepanz zwischen jugendlichen Vorstellungen und erwachsenem Lebensentwurf, über Glück und die Abwesenheit von Glück, und vor allem: über das Verdecken von Unglück. «Bitte erinnere mich, Bea, dass ich niemals zu dir sage: ‹Lass es gut sein.› – ‹Ich kann nicht mehr›, muss es heissen, oder: ‹Ich hätte gerne, dass es gut ist, also sei jetzt bitte mal still.›»

«Ich muss das aber lesen», möchte ich meiner Mutter heute entgegnen, zwanzig Jahre nachdem ich ihre Tagebücher zum letzten Mal sah. Ich greife danach, aber statt ihrer halte ich meine eigenen Notizhefte in den Händen. Ich weiss, manchmal sage auch ich solche Dinge wie «Lass es gut sein» zu meinen Kindern. Und manchmal meine ich damit: Es ist verdammt noch mal anstrengend! Ich fühle mich scheisse! Alles ist sinnlos!

Ich selbst schreibe nicht Tagebuch, sondern Romane. Versuche, Worte zu finden, die tiefer gehen; kein «Lass es gut sein» und auch kein «Wieder viel zu viel gegessen». Ob meine Kinder das je interessieren wird? Ich hoffe, dass sie einst alles lesen, was sie kriegen können; nicht nur Fetzen aus unserer gemeinsamen Familiengeschichte, sondern alles von Ingeborg Bachmann bis Anke Stelling, von Doris Lessing bis Rachel Cusk. Ich werde ihnen einen Stapel Bücher neben ihr Bett stellen.

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