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Lukas Bärfuss:
«Koala»

 

Lukas Bärfuss’ Ich-Erzähler reist nach jahrzehntelanger Abwesenheit in sein Heimatstädtchen zurück, um einen Vortrag zu halten und seinen dort noch wohnhaften Bruder zu treffen. Die beiden sprechen wenig miteinander, zu verschieden sind sie: der Erzähler agil, weit gereist und Familienvater, der Bruder hingegen ein phlegmatischer Ex-Junkie, der kaum aus seinem Kaff herausgekommen ist und in aussichtslosen Beziehungen dümpelt. Deprimiert von alledem betrinkt sich der Besucher nach seinem Auftritt und reist am nächsten Tag mit brummendem Schädel ab, ohne sich von seinem Bruder verabschiedet zu haben. Was er nicht ahnt: der Bruder hat längst den Entschluss gefasst, sich umzubringen.

Nach dem Suizid seines Bruders sucht das Ich nach Antworten, findet sie aber weder bei Freunden noch in der Philosophie oder der Psychologie. Bleibt das eigene Metier: das Erzählen – doch der Tod lässt sich nicht erzählen. Oder nicht direkt; aber erzählen kann man immerhin von etwas ganz anderem: von Koalabären. Weil «Koala» der gehasste Pfadfindername des Bruders war. Weil das Tier in seiner Langsamkeit und Scheu später aber doch gut zu ihm zu passen schien.

Erzählt wird fortan also von Aborigine-Mythen um den Koalabären, von der Kolonialisierung Australiens und der wissenschaftlichen Entdeckung des Tiers. Überraschend dabei: diese Recherchen des Ich-Erzählers nehmen fast den ganzen Rest des Romans ein. Doch was zunächst irritiert, liest sich je länger, desto schlüssiger: Vor der Folie des Fortschrittsglaubens der Kolonialpolitik um 1800 wird das behäbig-immobile Tier zum grossen Antihelden der Moderne. Und genauso quer, wie einst die Trägheit des Tiers zum pionierhaften Geist seiner Entdecker stand, stand später das unbedarft-wunderliche Leben des Selbstmörders zu einer auf Flexibilität und Leistung getrimmten Gesellschaft.

Nun ist es nicht das erste Mal, dass die Literatur zur Zeitkritik ein Tier aufbietet: Heinrich Heine exerzierte die Tristesse einer entzauberten Welt am Beispiel des Tanzbären «Atta Troll» durch, und Wilhelm Raabe hatte der beschleunigten Moderne in seinem «Stopfkuchen» ein träges Mammut gegenübergestellt. Doch besticht Bärfuss’ Beschreibung des Koala dadurch, dass er das Tier gerade nicht auf einen sympathischen Nenner bringt: Das plüschige australische Nationalmaskottchen stellt sich als zutiefst asoziales, hässliches und selbstgenügsames, aber auch beschränktes Tierchen heraus, das seine eigenen Jungen nicht von denen anderer unterscheiden kann und sich bei Gefahr in einen Ast verkrallt, von dem man es bloss herunterzuschütteln braucht.

Der Koala wird so zum Gegenbild der gesellschaftlichen Rasanz, ohne dass eine valable Alternative aufgezeigt würde. Doch indem Bärfuss diese düsteren Betrachtungen einem Trauernden zuschreibt, wirft der ins Depressive driftende Text auch wieder Fragen auf: Wie weit ist seine Kulturkritik Ausdruck des Haderns mit einem erlittenen Verlust? Oder mit der Welt, denn: betrauert der Erzähler nicht vielmehr sein eigenes Dasein als das Wegsein des Bruders? – Fragen, die dem Leser eine Distanz zum Pessimismus der Figur erlauben und ihn zugleich in die Denkbewegung dieses brillant geschriebenen Buchs hineinziehen.

Lukas Bärfuss: Koala. Göttingen: Wallstein, 2014.

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