NACHTGRÜN
Auf dem Friedhof von Painswick stehen neunundneunzig Eiben. Sobald man eine dazu pflanzt, reisst der Teufel sie gleich wieder aus, sagt man. Hat man uns gesagt. Ich habe nicht nachgezählt. Dass ich die Geschichte glaube, liegt ohnehin nicht drin. Ob sie mich als Kind beeindruckt hätte? Der Teufel gehörte kaum je zum Personal meiner Ängste. Ein geheimes Gesetz dagegen, das in dem vielleicht auf heidnische Zeiten zurückgehenden Hain das Wachstum regelt, würde ich mir gern denken. Die Bäume sind sehr alt. Jedes Jahr werden sie zurechtgestutzt; in entschiedene, oft asymmetrische Formen gebracht. Jeder anders. Dieser ist nicht ganz eine Kugel, jener nicht ganz ein Kegel. Der eine wie der andere riesig. Jeder steht, mit viel Raum um sich herum, allein. Beeren sind keine zu sehen. Es ist Winter. Der Himmel ist blau. Die auch am Mittag tiefstehende Sonne holt aus den dunklen Nadeln einen Glanz heraus für den sich zuerst das Wort Nachtgrün meldet. Das ist eines meiner vielen Lieblingswörter. Ich habe es von einem Farbstift. Wie ich ihn in die Hand nehme, sehe ich gleich, dass die Farbe nicht passt. Sie ist zu hell, zu matt. Aber hier geht es nicht in erster Linie um die Farbe, die ich mit dem Stift auf das Papier bringen kann, sondern um das Wort. Es sagt mir genau das, was ich hier brauche: Einen dunkeln, fast schwarzen Glanz mit grünen Lichtblicken. So, wie man ihn in der Wintersonne an den Eiben sieht, an den Stechpalmen und im Efeu. The holly and the ivy/when they are both full grown: Ein Kinderlied macht sie zum Inbegriff der Weihnachtszeit. Die Blüten der Stechpalme sind so weiss wie die Lilien der Muttergottes. Ihre Beeren so rot wie Blut.
Die Eiben haben mich aus der Kindheit nach England hinübergetragen. Dort wohnten wir einmal einen Winter lang. Nicht nur in Painswick haben wir auf dem Friedhof Eiben stehen sehen. Giftig und immergrün werfen sie da und dort oder überall ihren Schatten über die alten Gräber; ein Sinnbild für Tod und Auferstehung, das nicht fehlen darf an einem Ort, wo man sich bei Lebzeiten auf das Sterben besinnen soll, das einem vielleicht schon am nächsten Tag bevorsteht. Dass dort die Gräber als solche gar nicht zu sehen sind, sondern nur, unregelmässig über die unebene Wiese verstreut und meistens irgendwie schief aus dem Gras ragend, die Grabsteine, hat mich immer wieder erstaunt und gefreut. Überwachsen mit gelbgrüngrauen Flechten, mit sattgrünem Moos stehen sie da; grün und grün und noch einmal grün: Ein grüner Esel kommt auf mich zu. Der ist aus einem Buch. Als er mir vor Jahren zum ersten Mal durch den Kopf ging, liess er eine Spur zurück, die mich, ihm nach, stracks in Richtung Glück führte. Dort kam ich allerdings nie an. Ich habe die Spur verloren. Seit jenem Aufbruch ins Grüne ist viel Schnee gefallen. Das stört den Esel nicht. Da er nur ein Gedanke ist, kann er durchs Feuer, übers Wasser oder in die Luft gehen, wie er will. Mir allerdings fällt auf den verschneiten Wegen jeder Schritt schwer. Lieber als dass ich den Esel weiter verfolge, will ich zuhause bleiben und mich um mein Grünzeug kümmern: Die Wüstenpflanze auf meinem Tisch, die Kräuter vor meinem Fenster. Ich fürchte, dass sie erfroren sind in der Kälte, die nun schon seit Wochen andauert. Wie ich hinausschaue, sehe ich, dass unsere Eibe schwarz im abendlichen Gegenlicht steht. Die Blätter der Stechpalme leuchten unter den letzten Sonnenstrahlen noch einmal auf, bevor sie sich dann ebenfalls der Nacht überlassen. Ich denke an den Winter in England. An die Gärten mit ihren immergrünen Pflanzen. An grünspangrüne Dächer. An grün und grün und noch einmal grün.
Entnommen aus dem Projekt SONJA. Wir danken der Autorin für ihre freundliche Mitarbeit.
Ausgezeichnetes Werk: «Unterwegs nach Ochotsk» (Engeler 2014)