Christian Kracht:
«Imperium»
«Das Appenzeller Hundessen wird in der Schweiz an Ostern seit vielen hundert Jahren gefeiert», sagt Christian Kracht. Er hat gerade eine Lesung vor deutschen Studenten gehalten. Man hört ihm gespannt zu. «Die Häuser im Appenzell stehen rund um einen Dorfplatz, jede Familie besitzt einen Hund. Jedes Jahr wird einer geschlachtet und bei einem gemeinsamen Fest verzehrt – das geht reihum. So ist stets Zeit, neue aufzuziehen.»
Kracht zelebriert das Unglaubliche, Widerspruch regt sich nicht. Wie so oft: man begegnet dem vermeintlichen «Popautor» hilf- und ratlos, denn seine Poetisierungen kombinieren das Reale und das Absurde, mit undurchsichtigen Ausschlägen in beide Richtungen. Diesem Muster bleibt er auch in «Imperium» treu. Erzählt wird die Geschichte des Nürnbergers August Engelhardt, der 1902 in Herbertshöhe, Deutsch-Neuguinea, eintrifft. Engelhardt ist Kokovore, er glaubt an die Göttlichkeit der Kokosnuss, an ihre heilende und lebenspendende Kraft. Der Aussteiger kauft eine Insel, dort zieht er eine Kokosplantage hoch, beschäftigt Ureinwohner, ohne sie zu bezahlen, und produziert allerhand Kokosprodukte, für die nirgends auf der Welt eine Nachfrage besteht. Dennoch: innerhalb kürzester Zeit findet er Bewunderer in industrialisierungsmüden Zirkeln und propagiert mit beachtlichem Erfolg seinen «Sonnenorden». Der besteht zunächst nur aus ihm selbst, was sich aber schon bald ändert und für Ärger in der Kolonie sorgt…
Klingt nach einer weiteren Krachtschen Überblendung, ist aber tatsächlich eine weitgehend historisch verbürgte Biographie aus der Blütezeit der Lebensreformbewegung. In Künstler- und Vegetarierkolonien und in einschlägigen Sanatorien sucht der Mitteleuropäer seit 1900 mit Sonnenlichtkuren die Rückkehr zum «natürlich-menschlichen» Miteinander in einer zunehmend industrialisierten, entfremdeten Gesellschaft. Nicht wenige verlassen – wie Engelhardt – hierfür sogar den Kontinent. Mit von der Partie: viele deutsche Schriftsteller.
Christian Kracht setzt nun der Bewegung und ihren literarischen Verwertern ein schräges Denkmal. Im trügerischen Parlando eines Hermann Hesse oder Thomas Mann schildert sein Erzähler einen möglichen Engelhardt, der sich und seinem Geschäftsmodell auf Weltreise stets liebevoll selbst im Weg steht. Er begegnet Hesse – wenige Jahre bevor dieser mit «Doktor Knölges Ende» seine lebensreformerischen Erfahrungen mit vernichtendem Groll niederschreiben wird. Mann, der 1924 den «Zauberberg» verfassen wird, zeigt Engelhardt gar ob seiner Nackedei an. Und während all das geschieht, so lässt uns der bonmotbegeisterte Erzähler wissen, revolutionieren Einstein und Freud die Wissenschaften. Alles unbemerkt oder ignoriert von Engelhardt, versteht sich, denn es «interessiert ihn nicht». Die Welt ist ihm «fremd geworden». Aus diesem Kontext zieht der Roman seinen Reiz: Während Europa in zwei Weltkriegen versinkt, knabbert Utopist Engelhardt an seinen Zehennägeln, um der Unterernährung beizukommen. Er entwickelt Sympathien für den «deutschen Geist» und später für dessen Herrschaftsanspruch im Pazifik. Den Körper befallen von der Krätze, doch trotzdem weiter seinen ideologischen Eitelkeiten frönend, lenkt er seine Koko-Kommune in den schillernden Untergang. Damit steht er exemplarisch für jene rückwärtsgewandten Verweigerer, die in den 1930ern den sich kulturmessianisch gebärdenden Nationalsozialismus einer als dekadent und entartet verschrienen Fortschrittsgesellschaft vorziehen.
Von Hesses «Knölge» aus dem Jahr 1910, der von seinem Ideal, einem Affen, erdrosselt wird, über Alex Garland, der 1996 in «The Beach» seine jugendlichen Aussteiger in Thailand aufeinanderhetzt, bis zum Engelhardt-Re-Modeling: die sezessionistische Utopie macht immer neue, einander aber strukturell ähnelnde Untergänge durch. Die sonnige Gegenweltutopie wird aber auch Christian Krachts gelungene Vernichtungsorgie ebenso sicher überleben wie die Appenzeller Hunde das diesjährige Osterfest.
Christian Kracht: Imperium. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2012.