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Nicht zu vergessen #3

Sprache und Macht

Theresa Hak Kyung Cha war alles Mögliche: eine koreanische Immigrantin in Amerika, eine Frau in der Avantgarde, Performance- und Videokünstlerin, Autorin. Sie hat ein einziges Buch geschrieben: «Dictee» (1982). Ein verwirrendes, grosses, schönes, trauriges und befreiendes Buch, irgendwo zwischen Lyrik, Memoire, Oral History und Sprachexperiment. Geteilt in neun Kapitel, die nach den neun Musen benannt sind, tastet sich das Buch durch Gebiete der Erinnerung und der Sprachlosigkeit, schneidet durch Zeit und Identität, untersucht die Sprache als Mittel der Unterdrückung; erzählt von Yu Guan Soon, einer koreanischen Revolutionärin, von Chas Mutter, von Jeanne dArc, Therese von Lisieux und von Carl Dreyers «Gertrude», die wie ein Geist durch die Seiten schwebt. Cha schreibt von der Entstehung der Erde und dem Verschwinden der Form, von der Macht der Sprache und der Macht der Sprachlosigkeit. Ihre Flügelspannweite ist so gewaltig, dass man «Dictee» fast nur mit Inger Christensens «det» (1969) vergleichen kann, einem der grössten lyrischen Werke des 20. Jahrhunderts.

Cha hat die Publikation von «Dictee» nicht miterlebt. Sie wurde einige Tage davor in New York ermordet. Das Buch ging vergessen. Erst in den 90ern wurde es in akademischen Kreisen wiederentdeckt. 2001 wurde «The Dream of the Audience» veröffentlicht, ein Katalog ihrer visuellen Werke, und 2007 «Exilee/Temps morts», eine Sammlung unveröffentlichter Texte. Das ist alles, was wir von ihr haben. Cha wurde ermordet, bevor sie je gelesen werden konnte, und genau deshalb ist es umso wichtiger, ihre Stimme heute zu hören. Im Zyklus «audience/distant relative» schreibt sie: «neither you nor i/ are visible to each other/ i can only assume that you can hear me/ i can only hope that you hear me.» – «Ich kann nur hoffen, dass ihr mich hört.» Ich hoffe, wir hören sie, und ich hoffe, wir hören ihr zu. Denn mit jeder Leserin, jedem Leser bleibt sie ein kleines bisschen länger lebendig.


Eva Maria Leuenberger
ist Schriftstellerin. Sie studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und gewann 2014 das 5. Treibhaus-Finale. Sie lebt und arbeitet in Biel.

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