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Nüchtern auf der Achterbahn

Nüchtern auf der Achterbahn

Frédéric Pajak: Ungewisses Manifest 5: Vincent van Gogh.

 

Der grosse Meister, das verkorkste Genie, der undankbare Mensch. An Van-Gogh-Biografien mangelt es nicht, und man darf sich zu Recht fragen, ob es denn noch eine braucht. Die Antwort lautet: Die von Frédéric Pajak, die braucht es. Im fünften Band seiner Manifest-Reihe nähert sich Pajak van Gogh auf seine ganz eigene Art und Weise an: präzise, extrem detailreich, aber gleichzeitig ganz und gar ungeschnörkelt. Trotz schwerem Inhalt und dunklen Tuschzeichnungen liegt in diesem Werk eine eigentümliche Leichtigkeit. Pajak ist kein überehrgeiziger, perfektionistischer Kunsthistoriker, kein aufmerksamkeitsheischender Biograf. Pajak ist einzig und allein ein begnadeter, leidenschaftlicher Chronist. Rasch scheint es, als sei er dem Künstler mit Notizblock und Skizzenheft tatsächlich gefolgt, habe nichts anderes getan, als genau hinzuschauen und die Wahrheit, so gut es ging, zu Papier zu bringen. Ohne stilistische Ornamentierungen beschreibt Pajak die physische und psychische Lebens- und Leidensodyssee des niederländischen Pastorensohns. So detailliert, dass man während des Lesens nicht selten an den Punkt kommt, an dem man sich fragt, wie viel nun der Fantasie des Autors entsprungen ist und wie viel tatsächlich auf Fakten und Tat­sachen beruht; gleichzeitig aber rücken diese Umstände in den Hintergrund. Die sprachliche Nüchternheit wirkt beruhigend angesichts der inhaltlichen Achterbahnfahrt, die einen dennoch in ihren Bann zieht.

Pajaks nichtwertende Herangehensweise hat durchaus ihren Sinn: Ansonsten würde man – selbst mit einem zeitlichen Abstand von etwas mehr als 150 Jahren – das Gebaren dieses jungen Mannes nur schwer aushalten. Der Autor und Zeichner schlägt sich auf keine Seite, weder auf die van Goghs noch auf die seiner Weggefährten, aber er greift doch die grossen Themen aus des Künstlers Leben auf: das Unverständnis, mit dem er den anderen und die anderen ihm begegneten; seine Selbstlosigkeit und Selbstaufgabe, die paradoxerweise oft im Kleid des Egoismus auftreten; die ernüchternden Kritiken, die der Maler zeitlebens von den seinerseits bewunderten Berufskollegen erfahren musste.

Auch die Tuschzeichnungen erheben keinerlei Ausgefallenheitsanspruch, schreien nicht nach Aufmerksamkeit. Und doch sind sie überaus lebendig, transportieren Leid und Misere – überall dort, wo Pajak zum Porträtierenden wird – und Freude und Leichtigkeit erstaunlicherweise dort, wo sich die Natur zeigt. Würde man sie ohne Text konsumieren, zeigten sie eine Dokumentation des gnadenlosen Arbeiterlebens im 19. Jahrhundert – nur in einem beinahe schon vernachlässigbaren Bruchteil der Bilder wird das Schaffen van Goghs zum Motiv.

Ist das nun eine Graphic Novel? Eine Biografie? Ein Roman? Die Nichteinordnung ist so wohltuend wie passend: Es ist keines von alldem, aber doch alles ein klein wenig. Vielleicht hat Pajak ein neues Genre erfunden, unter dem er gerne noch weitere Werke veröffentlichen darf. Auf Französisch sind es bereits acht.


Frédéric Pajak: Ungewisses Manifest 5: Vincent van Gogh.
Aus dem Französischen von Ruth Gantert.
Biel: edition clandestin, 2019.

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