Sag ja zu deinem Problem!
Der Film «Brazil» zeigt uns die Empfangshalle eines imaginären Informationsministeriums. Dort steht ein kleines Gerät namens «Decision-Maker». Es sieht aus wie ein Miniaturmodell der Guillotine und wird von einem sadistischen Angestellten bedient: Rein zufällig fällt das Lot mal auf diese, mal auf jene Seite. Auf welche, ist egal, Hauptsache, es wird entschieden. Dieses Gerät möchte […]
Der Film «Brazil» zeigt uns die Empfangshalle eines imaginären Informationsministeriums. Dort steht ein kleines Gerät namens «Decision-Maker». Es sieht aus wie ein Miniaturmodell der Guillotine und wird von einem sadistischen Angestellten bedient: Rein zufällig fällt das Lot mal auf diese, mal auf jene Seite. Auf welche, ist egal, Hauptsache, es wird entschieden.
Dieses Gerät möchte man heute all jenen mitgeben, die nicht wissen, was sie mit ihren Talenten und Möglichkeiten anfangen sollen. Weshalb tun sie sich schwer? Schlecht informiert sind sie nicht, im Gegenteil: Sie wissen längst über alles Bescheid, genau wie das Informationsministerium im Film von Terry Gilliam. Ihre Zahl soll – vor allem unter den 25- bis 40jährigen – im Steigen begriffen sein, so lesen wir, und nun melden sie sich auch zu Wort.
Eines ist gewiss: Es ist nicht einfach, das Richtige zu wählen. Entscheide ich mich für etwas, bedeutet das immer, dass ich mich auch gegen etwas anderes entscheide. Studiere ich Physik, werde ich wahrscheinlich nicht Deutschlehrer. Heirate ich Andrea, dann heirate ich, zumindest auf absehbare Zeit, nicht Silke. Wir sollen etwas aus uns machen, wird gesagt, und genau hier liegt das Problem. Sich selbst zu wählen, schrieb der Philosoph Søren Kierkegaard in «Entweder-Oder», sei deshalb so schwer, weil durch diese Wahl «jede Möglichkeit, etwas anderes zu werden, vielmehr sich in etwas anderes umzudichten, unbedingt ausgeschlossen wird». Wer sich da leicht tut, gehört entweder zu der raren Spezies derer, die schon immer wussten, was sie wollen. Oder er denkt einfach nicht nach. Alle anderen, so darf man annehmen, sind noch «unentschlossen» – oder «verwählen» sich nach vorn. Bis zum Exzess treiben dies die Protagonisten in Max Frischs Romanen «Stiller» – dort steht das Kierkegaard-Zitat als Motto – und «Mein Name sei Gantenbein». Das Ganze lässt sich aber auch kürzer fassen: «Freiheit heisst: mir entscheidet üs ned», rappt Kutti MC alias Jürg Halter auf seinem aktuellen Album «Freischwümmer». Und diese Freiheit wächst. Was immer wir gerade machen, es gibt immer mehr Dinge, die wir stattdessen machen könnten. Eben doch Silke treffen statt Andrea zum Beispiel. Dieses «Problem» der Freiheit ist so alt wie die Freiheit selbst, ganze kulturgeschichtliche Epochen wurden von der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Tatsache bestimmt, dass wir immer mehr können, aber stets auch noch mehr wollen. Vor diesem Hintergrund ist die angeblich so neuartige «Generation der Unentschlossenen» bloss noch eine fixe Marketing-Idee. Attraktiv dank Komplexitätsreduktion, schiesst der Begriff diagnostische Leuchtraketen in die Abgründe einer zersplitterten, individualisierten Gesellschaft. Dort entdeckt er eine neue Schmerzzone und spricht den Leidenden Trost zu: Bist du nicht auch einer, der sich nicht entscheiden kann? Dann gehörst du zu uns. Sag ja zu deinem Problem und wir senden dir deine Membercard – natürlich ohne jede Verpflichtung.
Die Macher in den Verlagen und Redaktionen, meist älter als die Zielgruppe der Twentysome-things, haben ihre eigenen Entscheidungszwänge in der Regel bereits überlebt. Gut möglich, dass sie nun neidisch auf jene blicken, die, wie es so schön heisst, alles noch vor sich haben. So viele Chancen, so viele Sehnsüchte – und dann können die sich nicht entscheiden! «Heult doch – über eine Generation und ihre Luxusprobleme»: Der Titel des Buches von Meredith Haaf geht das Thema moralisch an. Pastorale Einfühlung mimt dagegen Nina Pauer, die sich selbst zu den Betroffenen zählt und ihrer Gemeinde Verständnis und Nestwärme, inklusive Musik-Playlist und Süssigkeiten, schenkt. In ihrem Buch «Wir haben (keine) Angst» sagt sie einfach «wir», wenn sie von sich spricht. Doch: Vereinfachende Generationsdiagnosen bestätigen nur Allgemeinplätze. Gute Literatur wendet sich dem Einzelfall zu. Es gab sie immer, die Unzufriedenen, Ruhelosen, die sich nicht eingliedern wollen oder können. Es gibt sie, so zeigen die Folgeseiten, auch in der Literatur der Gegenwart.