Schriftsteller a.D.
Seine Bücher gelten als «politisch» – jetzt ist Jonas Lüscher einen Schritt weitergegangen: er ruft zu einer europaweiten Demonstration gegen Nationalismus und Populismus auf. Ein Gespräch über die Rolle des «kritischen Intellektuellen» jenseits der Schreibstube.
Herr Lüscher, auf unsere Anfrage für dieses Gespräch zu unserem Schwerpunkt «Zorn und Protest» antworteten Sie, Ihr Zorn sei dieser Tage so gross, dass Sie die Schriftstellerei vorläufig zur Seite gelegt und den Schritt zum Aktivisten gewagt hätten. Wie kommt’s?
Eigentlich wollte ich diesen Sommer meinen neuen Roman beginnen. Aber das Aufkeimen des Nationalismus, ob «America first», «Bavaria first» oder «Hungary first», und das Erstarken des Rechtspopulismus überall in Europa bereiten mir so grosse Sorge, dass ich mich einfach gefragt habe, was ich in dieser Situation als Bürger und Schriftsteller noch tun kann. Und weil ich durch meine Tätigkeit ein grosses Netzwerk an Kontakten habe, nutze ich das nun, um zu einer gesamteuropäischen Grosskundgebung aufzurufen. Das beschäftigt mich derzeit Tag und Nacht – der Roman muss so lange warten.
Ein solcher Aufruf und sein sloganhaftes Vokabular sind als Text von Jonas Lüscher, sagen wir mal, ungewohnt. Oder hat es Ihnen Spass gemacht, auch einmal Parolen à la «Gegen Nationalismus – für ein geeintes Europa» zu schreiben?
Es war eine schwierige Entscheidung, so weit zu gehen. Einen Satz wie «Es wird Zeit, ein Zeichen zu setzen» in die Tasten zu hauen – das tut mir schon irgendwie weh. Ich muss mich von ganz vielem verabschieden, was mir beim Schreiben wichtig ist und weshalb ich mich im literarischen Schreiben so wohl fühle: nämlich, weil ich da ambivalent sein kann; weil ich ironisch sein darf, Zwiespalt und Vielfältigkeit repräsentieren kann. So ein Aufruf lässt das nicht zu, er zwingt mich zu Eindeutigkeit und Klarheit. Aber manchmal muss man aus seiner Schutzzone raus. Ich wurde natürlich schon auch von Feuilletonisten oder anderen Autoren durch die Blume gefragt, was das denn jetzt sei, dass ein Autor, den sie bislang für klug gehalten hätten, auf einmal so plumpen «linken Aktivismus» betreibe. Andererseits: die Unterstützung ist gigantisch.
Ihre Werke gelten ohnehin als «politisch». Warum haben Sie für Ihren Protest nicht die Literatur gewählt? Kann Literatur doch zu wenig bewirken, oder sogar: nichts?
Klar, Essays zu schreiben, politische Romane zu schreiben, ist auch eine Art des Handelns. Aber natürlich viel weniger konkret als der gute alte Aktivismus, gemeinsam auf die Strasse zu gehen, der eben auch manchmal notwendig ist. Beides schliesst sich ja auch keineswegs aus – ich glaube absolut daran, dass man als Schriftsteller mit dem Schreiben etwas beiträgt.
«Ich muss mich von ganz vielem verabschieden, was mir beim Schreiben wichtig ist.»
Vor allem Ihr Erstling «Frühling der Barbaren» wird oft an Schulen besprochen, junge Menschen lesen ihn in einem prägenden Alter, er wird offenbar für geeignet gehalten, Schülern die richtigen Fragen zu einem komplexen gesellschaftlichen Phänomen an die Hand zu geben. Ist es das, was Sie mit «etwas beitragen» meinen?
Zum Beispiel. Ich bin auch häufig zu Lesungen an Schulen, und die Begegnungen dort zeigen mir, dass man mit Literatur durchaus etwas erreichen, bewirken kann. Man muss das aber auch relativieren. Wenn man in Deutschland 40 000 Exemplare eines Romans verkauft, gehört man schon zu den sehr Glücklichen. Ein «Tatort» erreicht 10 Millionen Leute.
Und auch da wird gern versucht, politische Stoffe zu verhandeln. Ein «Tatort»-Drehbuch von Jonas Lüscher, wie wär’s?
(lacht) Im Moment nicht. Ich hab so was ja früher als Drehbuchdramaturg und Stoffentwickler beim Fernsehen gemacht. Es war unglaublich frustrierend – da reden so viele Leute mit, es geht um so viel Geld. Das verwässert Ideen ziemlich zuverlässig, man muss sich ja nur anschauen, was in der Regel im Fernsehen läuft.
Dann schnell zurück zur Literatur. Worin liegt denn die Stärke von Geschichten, wenn es darum geht, ein kritisches Weltverständnis zu vermitteln und «etwas zu bewegen»? Was kann Literatur, das wissenschaftliche Texte, Aktivistenaufrufe, Parteienslogans oder «Arena»-Debatten nicht können?
Da gibt es diverse Stärken, angefangen bei der altbekannten «Education sentimentale», dass man also den Kreis der Solidarität vergrössern kann. Wenn wir ein Buch, sagen wir, über Schwule lesen, wird uns im besten Fall klar, dass der, den wir vorher als einen der anderen gesehen haben, eigentlich einer von uns ist, weil er auf dieselbe Art und Weise Demütigung erfährt, leidet oder liebt. Dass einem also das Fremde näherrückt. Ein berühmtes Beispiel ist «Onkel Toms Hütte», das zur Abschaffung der Sklaverei Wesentliches beigetragen hat. Oder «Germinal» von Emile Zola, das für die Arbeiterbewegung eminent wichtig war, weil das Leiden der Arbeiter plötzlich im Bürgertum ankam, verstanden wurde. Gerade wissenschaftliche oder philosophische Texte funktionieren anders, sie laufen auf Eindeutigkeit hinaus: Man will ein möglichst scharfes Argument haben oder eine Theorie, unter deren Dach möglichst viele Einzelfälle passen. Die Ambivalenz muss da eher ausgeblendet werden. In der Literatur kann man genau damit operieren: Ich brauche nie Eindeutigkeit, ich brauche nie Präzision – ich kann eben das Ambivalente, das Uneindeutige in vollem Umfang zulassen. So kommt auch der Einzelfall zu seinem Recht.
Unschärfe und Ambivalenz sind als Beschreibung einer vielgestaltigen Welt und komplexer Entwicklungen sozusagen «präziser»?
Gewissermassen. Perfektion ist in der Literatur unerwünscht. Perfektion, Reinheit, Sauberkeit brauchen mich überhaupt nicht zu interessieren. Wenn ich wissenschaftlich arbeite, sind genau diese Dinge wichtig, bis zu einem gewissen Grad selbst in der Philosophie, indem man versucht, Begriffe immer weiter zuzuspitzen, um sie noch treffender zu machen. Ich finde, beim Zuspitzen wird der Fisch nicht selten sogar glitschiger, gleitet einem aus der Hand: Zu enge Begriffe umfassen die Vielfalt dessen, was uns im Alltag begegnet, nicht mehr.
Gilt das ähnlich auch für, salopp gesagt, literarische Pamphlete, also Texte, bei denen Zorn und Protest Haupttriebfedern sind, die sozusagen ein Programm verfolgen?
Mit einem Roman ein Programm zu verfolgen, etwas beweisen oder bewirken zu wollen, ist ziemlich sicher keine gute Idee – auch wegen solchen Verengungen. Ich wüsste zum Beispiel nicht, wie ich einen Roman über die ganze Migrations- und Flüchtlingsthematik schreiben sollte. Da haben Ironie und solche Dinge so wenig Platz, dass ich lieber einen Essay darüber schreibe. Aber das mag auch ein Ausweichen sein. Eigentlich wäre es wunderbar, jemand würde einen ambivalenten, uneindeutigen und vielleicht manchmal sogar ironischen Roman über diese Thematik schreiben. Aber das ist unendlich schwierig.
Houellebecq hat ein Szenario versucht…
Ja, aber ist das Ergebnis nicht doch eher reaktionär und polemisch?
Waren denn Zorn oder vielleicht eher Empörung über die Welt nicht auch Triebfedern für «Frühling der Barbaren» und «Kraft»?
Doch, das waren sie – aber nicht der Hauptantrieb. Ich bin ein politischer Mensch und deshalb auch ein politischer Schriftsteller, das lässt sich ja nicht trennen. Die Themen, die mich beschäftigen, finden sich in meinen Büchern wieder. Beim Schreiben habe ich aber sicher kein «Programm». Mich treibt vor allem die Neugier an. Am Anfang steht meist eine – oft recht unscharfe, diffuse – Frage, das Romaneschreiben ist für mich in diesem Sinn auch ein Erkenntnisinstrument.
Nach «Frühling der Barbaren» sind Sie ziemlich schnell zum neuen Stern unter den «kritischen Intellektuellen» der Schweiz ausgerufen worden. Stimmt der Eindruck, dass Sie sich mit Ihrer Rolle als politischer Schriftsteller mittlerweile ganz wohl fühlen, nachdem Sie anfangs noch etwas damit gefremdelt hatten?
Das ging ja tatsächlich ziemlich schnell bei mir, natürlich ist man nach seiner ersten Novelle noch nicht sofort in so einer Rolle zu Hause. Heute ist es eine Rolle, die ich annehme, und das gar nicht so ungern. «Wohl» fühle ich mich darin bis heute aber nicht ganz, und ich denke, das ist auch ganz gut so. Man sollte es sich in Rollen nicht zu bequem machen, so bräsig einrichten, das ist auch bei Schauspielern immer so abstossend. Rollen sind ja auch immer Zuschreibungen von aussen.
«Wenn man nur in den Wald schreit und es kommt nichts zurück, hat ja auch keiner etwas davon.»
Der bekannteste Schweizer Zornestext der letzten Jahre ist sicher Lukas Bärfuss’ «Die Schweiz ist des Wahnsinns», den er vor den eidgenössischen Wahlen 2015 in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» veröffentlichte. Bärfuss wurde nicht zuletzt für Ton und Sprache des Essays kritisiert – zu Recht?
Lukas Bärfuss selbst hat seinen Text ja als «Cri de cœur» betitelt – eine Bezeichnung, die ich sehr schön fand. Aber dadurch, dass er diesen ganz hohen Ton gewählt hat, war es den Kritikern möglich, nur über diesen Ton zu sprechen. Dabei waren in diesem Essay einige sehr gute Argumente zu finden, über die es sich zu sprechen gelohnt hätte. Aber dieser zornige, fast polemische Ton hat es den Kritikern leicht gemacht, sich um die wesentliche Debatte zu drücken. Dann haben sie noch ein, zwei falsche Zahlen gefunden, an denen sie ihn aufhängen konnten, dazu die Frage, ob man das in einer deutschen Zeitung zu publizieren hat. Das waren ja eigentlich nicht die interessanten Diskussionen. Worüber man hätte reden sollen, war zum Beispiel seine Beobachtung, dass die wesentlichen Veränderungen, die in der Schweiz stattgefunden haben, von aussen angestossen werden mussten, unter anderem durch die amerikanische Justiz. Das müsste doch auch die politische Rechte interessieren, wurde aber gar nicht aufgenommen.
Was die generierte Aufmerksamkeit betrifft, war Bärfuss’ Text ein Erfolg. Ist der Verzicht auf einige Nuancierungen dafür ein notwendiges Übel?
Schwer zu sagen. Aber ja, wenn man in einem Artikel ein Argument, einen Gedanken sehr differenziert entwickelt, das ist mir auch schon passiert mit Essays, dann liest es halt keiner mehr, weil es «zu anstrengend» ist. Aber das ist mir dann doch noch lieber, als mich der Vereinfachung schuldig zu machen.
Typisch Schweiz, dass man sich ständig nach dem kritischen Intellektuellen sehnt – und wenn dann einer den Mund aufmacht, ist es auch wieder nicht recht?
Das ist ja eine alte Tradition, und genauso alt ist auch der Streit darum. Ich erinnere an Karl Schmids «Unbehagen im Kleinstaat» von 1963. Es gibt in der Schweiz einen unendlich starken Wunsch nach Schriftstellern und Intellektuellen, die sich äussern, und genauso stark, wie die Aufforderung, es zu tun, ist dann auch der Gegenwind, den man kriegt. Eigentlich finde ich das gar nicht so schlecht – der Diskurs ist ja wünschenswert. Und er findet zumindest statt, anders als in anderen Ländern. In Deutschland zum Beispiel ist gerade nicht so wahnsinnig viel los in die Richtung. Anderswo gibt es solche Figuren, sie sind aber marginalisiert. In Italien ist Roberto Saviano ja neulich sogar von Innenminister Salvini verklagt worden, nachdem er ihn etwas überspitzt als «Minister der Unterwelt» kritisiert hatte. Im Vergleich dazu steht die Schweiz doch ganz gut da: Es gibt einige, die sich regelmässig äussern, und dann gibt es die, die sich verlässlich darüber aufregen. Wenn man nur in den Wald schreit und es kommt nichts zurück, hat ja auch keiner etwas davon.
Aber es ruft eben nicht immer so zurück, wie man gern gewollt hätte.
Sicher, Lukas Bärfuss’ Essay ist da ein gutes Beispiel. Aber das muss man aushalten.
Sie haben Roberto Saviano erwähnt. Saviano hat vor kurzem in «La Repubblica», «Tages-Anzeiger» und «Süddeutscher Zeitung» einen Appell an Italiens Intellektuelle gerichtet, sie sollten sich nicht länger verstecken, sondern sich einbringen, laut werden. Saviano schreibt, «in diesen Zeiten» müsse jeder, der die Möglichkeit habe, zu einem Publikum zu sprechen, es als seine Pflicht verstehen, Position zu beziehen. Haben Schriftsteller eine besondere Verantwortung, ihre Stimme zu erheben?
Es gibt auch Schriftsteller, denen das sehr schwer fällt, und das ist auch okay. Weil sie nicht die Persönlichkeitsstruktur dazu haben oder sich in der Öffentlichkeit unwohl fühlen – warum sollen die das machen? Man kann auch ganz verinnerlichte, wunderbare Bücher über Depressionen und die Probleme mit dem Vater schreiben. Die Literatur muss erst mal nichts.
Aber Sie müssen.
Ja, ich muss. Es ist eine innere Not, die mich dazu treibt. Weil es einfach gewisse Verhältnisse gibt, in denen ich nicht leben will. Ein Gedanke, der mich immer wieder umtreibt, ist die Frage: Wie wird man in hundert Jahren auf diese Zeit zurückblicken, wie wird man darüber schreiben? Und das sind natürlich Gedanken, die sich Intellektuelle machen können und sollten, weil man davon ausgehen kann, dass sie einen präzisen Blick auf die Welt haben, weil sie das Wissen dazu haben, auch in historischen Zusammenhängen denken können. Weil sie vielleicht auch die Phantasie dazu haben. Dazu kommt, dass wir als Intellektuelle oft Leute sind, die von der Gesellschaft wahnsinnig viel bekommen haben. Leute an Universitäten, das betrifft aber auch Schriftsteller, die ja oft von Kulturförderung leben. Da hat man auch den Auftrag, da und dort etwas zurückzugeben. Also doch, eigentlich finde ich schon, dass da eine gewisse Verpflichtung da ist, sich zu äussern.
Zusammen mit dem Philosophen Michael Zichy hat Jonas Lüscher einen europaweiten Aufruf gestartet, am 13. Oktober 2018 «gegen Nationalismus und für ein geeintes Europa» auf die Strasse zu gehen. Zahlreiche Intellektuelle, Autoren und Kulturschaffende haben den Aufruf unterschrieben. Mehr unter www.13-10.org.