Brückenbau und Fluchtpunkte
Das Lausanner Centre de traduction littéraire und das Übersetzerhaus Looren erhalten im Rahmen der Schweizer Literaturpreise den «Spezialpreis Vermittlung». Der «Literarische Monat» sprach mit den Leiterinnen beider Häuser über die gestiegene Wertschätzung für das Übersetzen, eine Generationenlücke – und einen Shakespeare-Übersetzer, der behauptet, kein Englisch zu können.
Gabriela Stöckli, Leiterin des Übersetzerhauses Looren, und Irene Weber Henking, Leiterin des Centre de traduction littéraire de Lausanne (CTL), kennen sich gut – und sie haben nicht nur den beruflichen Einsatz zur Förderung des literarischen Übersetzens gemeinsam: Beide studierten Spanisch, gaben ihren ältesten Söhnen den gleichen Namen. Da ist es nur passend, dass die zwei den «Spezialpreis Vermittlung» im Rahmen der Schweizer Literaturpreise zusammen erhalten – und auch gemeinsam zum Interview mit dem «Literarischen Monat» im Solothurner «Kreuz» erscheinen.
«Literarischer Monat»: Wir treffen uns zu diesem Gespräch in Solothurn, einem Ort, den man stark mit der Literatur verbindet. Ein wichtiger Ort auch für die Übersetzerinnen und Übersetzer?
Gabriela Stöckli (GS): Durchaus. Im Rahmen der Solothurner Literaturtage gibt es seit sieben Jahren eine eigene Programmsparte mit Veranstaltungen zum literarischen Übersetzen – die im übrigen sehr gut besucht werden! Die Literaturtage sind so auch für Übersetzerinnen und Übersetzer ein zentraler Ort geworden, wo sie sich und ihre Arbeit der Öffentlichkeit präsentieren und sich untereinander austauschen können. Aber auch andere Festivals haben in den letzten Jahren solche Elemente ins Programm aufgenommen.
Die Übersetzer gehören heute also offiziell «dazu», wenn es um Literatur geht?
Irene Weber Henking (IWH): Ja, in den letzten zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren ist wahnsinnig viel passiert, was die Anerkennung des literarischen Übersetzens und seine Präsenz in der Öffentlichkeit betrifft. Mit Folgen auch für die Selbstwahrnehmung der Zunft: Übersetzer treten heute zunehmend selbstbewusst als Autoren auf. Das kann so weit gehen, dass etwa ein Übersetzer wie André Markowicz sagt, er müsse kein Englisch sprechen, um das Theater von Shakespeare zu übersetzen. Es geht ihm mehr um Rhythmus und die Verteilung von Bedeutung in der metrischen Struktur.
Woran kann man die gestiegene Wertschätzung von aussen festmachen?
GS: Beispielsweise haben Stiftungen und auch erste Kantone und Städte ihre Autorenstipendien und -förderprogramme für Übersetzer geöffnet.
IWH: Der Honorarsatz für eine Normseite ist in wenigen Jahren von 40 auf 60 Franken gestiegen – eine einzigartige, erfreuliche und notwendige Entwicklung! Auch die Vergabe dieses Preises an uns wäre noch vor zehn Jahren niemandem eingefallen. Die Universitäten Lausanne und Basel haben in kurzer Folge Professorentitel honoris causa an zwei Übersetzer, Jean-Pierre Lefebvre und Irma Wehrli-Rudin, verliehen. Dazu eben die steigende Präsenz an Literaturfestivals – zunehmend sind darunter auch Veranstaltungen und Festivalformen zu finden, die ohne den Originalautor auskommen, wo also wirklich die Übersetzung und die Übersetzerin im Mittelpunkt stehen, was ebenfalls eine Wertschätzung dieser Form des literarischen Schreibens ausdrückt.
Eine Wertschätzung, auf die frühere Übersetzergenerationen verzichten mussten?
IWH: Die älteren unter den heute aktiven Übersetzern sind ganz anders geprägt. Gerade in Frankreich kamen und kommen sie teilweise noch von einer philologisch geprägten Ausbildung her. Bis Mitte des 20. Jh. gab es z.B. noch dicke Handbücher mit einer sehr ausgefeilten «Stylistique comparée et méthode de traduction», die genau erläuterten, was man in welchem Fall tun muss, wenn man beim Übersetzen auf ein Problem stösst: Hier das Passé simple in eine deutsche Vergangenheitsform umwandeln, dort die Metapher neu bilden, und wenn gar nichts funktioniert, als letzte Option ganz unten in der Tabelle: das Wort in der Originalsprache beibehalten. Dagegen gibt es aber auch und gerade in Frankreich Übersetzerinnen und Übersetzer, die sich durch eine grosse Kreativität auszeichnen und die Texte in ihrer Muttersprache neu schaffen. Letzthin war ich gemeinsam mit dem bekannten französischen Kafka-Übersetzer Jean-Pierre Lefebvre zu einem Radiointerview eingeladen und wurde gefragt, was einen guten Übersetzer ausmache. Ich antwortete, ein guter Übersetzer sei ein Autor. Lefebvre schreckte richtiggehend auf und entgegnete vehement: «Nein!»
«Literarisches Übersetzen ist zwar nicht nur Handwerk,
aber es ist eben auch Handwerk.»
Weil er Übersetzen als Handwerk sieht, im Gegensatz zum Genie des Dichters?
IWH: Nicht unbedingt: Das Bild des Übersetzergenies gibt es durchaus auch, nach dem Motto: «Dichter können nur von Dichtern übersetzt werden.» In der Kritik wird dann die «kongeniale Übersetzung» gelobt, als Pauschalurteil zum Schluss der Rezension, das aber kaum spezifiziert wird.
Auch Yla von Dach, die 2018 den Spezialpreis Übersetzung des BAK erhalten hat und zu dieser Generation gehört, sprach in ihrer Dankesrede noch vom idealen Übersetzen als möglichst unsichtbarem «Dienen».
IWH: Diese Aussage basiert auf dem Idealbild der «texttreuen» Übersetzung. Das ist für mich ein tatsächlich immer noch gültiger Fluchtpunkt in der Praxis des Übersetzens. Auf der theoretischen Ebene sind die Begriffe wie «Treue» oder «Wirkungsäquivalenz» schwierig zu benutzen: Was soll die «Wirkung» eines Liebesgedichts sein? Sie ist wohl kaum zu bestimmen. Man kann schlecht 1000 Leser befragen und einen Wirkungsdurchschnitt eruieren.
GS: Als Ideal halte ich die Wirkungsäquivalenz dennoch für kein so schlechtes Bild. Man möchte doch mit den abweichenden Mitteln der Zielsprache ein Angebot für die Wirkungsentfaltung eines Textes schaffen, das so nahe wie möglich an das Original herankommt, auch wenn eine tatsächliche Äquivalenz nicht zu erreichen ist und die Vorstellung meist auf schwer oder gar nicht zu verifizierenden Annahmen beruht.
IWH: Äquivalenz, wie Treue als Fluchtpunkt, einverstanden. Lieber spreche ich dennoch von einer «adäquaten» Übersetzung. Das zwingt einen dazu, auch zu sagen, worin die Adäquatheit besteht, und Kriterien zu bestimmen: Ist der Rhythmus des Originals adäquat übersetzt, die Form, der Klang?
Und dieses Instrumentarium vermitteln Sie am CTL – so wie an einer Bildhauerschule Bildhauertechniken gelehrt werden?
IWH: Ja. Literarisches Übersetzen ist zwar nicht nur Handwerk, aber es ist eben auch Handwerk. Und die Handwerkstechniken kann man lehren und lernen, zum Beispiel am CTL, und so seine Möglichkeiten, an eine Übersetzung heranzugehen, erweitern. So füllt sich zunehmend auch der Raum zwischen den Extremen der «philologischen» und der «kongenialen» Übersetzung. Doch die Akzeptanz der Lern- und Lehrbarkeit dieses Handwerks braucht ihre Zeit. Wie lange hat es gedauert, ein Literaturinstitut zu schaffen und anzuerkennen, dass man dort Schreiben lernen kann?
Ist es also das, wofür Sie vom Bundesamt für Kultur ausgezeichnet werden – eben nicht mit einem Übersetzungs-, sondern mit einem Vermittlungspreis? Worin sehen Sie Ihre Vermittlungsaufgabe?
IWH: Der französische Ausdruck «médiation» gefällt mir besser, «vermitteln» klingt immer auch ein bisschen nach verkuppeln. Wir bauen Brücken, um Übersetzer und all diejenigen, die zur Realisierung eines Übersetzungsprojekts – und dann auch zur Verbreitung des Ergebnisses! – beitragen, zu vernetzen: zwischen Übersetzern und Autoren, Übersetzern und Verlagen, Übersetzern und Kulturveranstaltern usw. So können sich die Übersetzer auf ihre Kernkompetenz konzentrieren.
GS: Ich sehe mehrere Dimensionen der Vermittlung. Zum einen ist literarisches Übersetzen selbst schon eine Vermittlungsleistung, indem es Literaturen aus anderen Sprachen und Kulturen zugänglich macht. Wir fördern aber gerade am Übersetzerhaus Looren explizit auch die Übersetzung von Schweizer Autorinnen in die unterschiedlichsten Sprachen und «vermitteln» damit die Schweizer Literatur in die Welt hinaus. Und schliesslich natürlich die von Irene erwähnten Brücken, sozusagen die «interne Vermittlung» zwischen Übersetzern, Autoren, Verlagen und Wissenschaft und insbesondere auch unter Übersetzern aus dem In- und Ausland – das ist eminent wichtig, damit bestehendes Wissen erhalten bleiben, weitergegeben und neues aufgebaut werden kann.
«Überspitzt gesagt, fehlt eine Übersetzergeneration.»
Wie steht es heute um dieses Wissen, um die Qualität und die Situation der literarischen Übersetzer in der Schweiz?
GS: Man darf schon sagen: Im Vergleich zu anderen Ländern recht gut. Mit der heutigen Wahrnehmung und Wertschätzung des literarischen Übersetzens können wir zufrieden sein, müssen das aber weiter pflegen. Bei allen Verbesserungen passiert es immer noch regelmässig, dass Übersetzer nicht zu Festivals eingeladen oder dann nicht namentlich aufgeführt werden. Heute genügt aber meist ein kurzer Hinweis, man muss solche Anliegen nicht mehr seitenlang begründen. Natürlich wären weitere Verbesserungen, etwa Verkaufsbeteiligungen, denkbar. Aber vielleicht muss man da auch etwas aufpassen: Die Übersetzer konnten ihr Standing zuletzt erfreulich verbessern, es ist wichtig, dass es auch den anderen Beteiligten gut geht, insbesondere etwa den Verlagen.
Was werden in naher Zukunft die wichtigsten Baustellen sein, die Sie bewirtschaften wollen?
GS: Aus meiner Sicht wird unsere oberste Priorität in naher Zukunft die Förderung des übersetzenden Nachwuchses sein, also Angebote zu schaffen und bestehende zu stärken, die Erstübersetzungen und den Einstieg in den Übersetzerberuf erleichtern. Zwischen der älteren Generation, die grossenteils das Pensionsalter erreicht hat und langsam kürzertritt, und den Jungen, die ihr Handwerk zum Beispiel am CTL erlernt haben, gibt es eine Lücke, die es rasch zu füllen gilt, um die Qualität des literarischen Übersetzens in der Schweiz weiter gewährleisten zu können. Überspitzt gesagt, fehlt eine Übersetzergeneration.
Es ist also ein guter Zeitpunkt, eine Übersetzerkarriere zu lancieren?
GS: Ja, vielleicht war der Moment noch nie so günstig wie jetzt.
Die ausgezeichneten Institutionen
Das Centre de traduction littéraire de Lausanne (CTL) engagiert sich seit 1989 für die Förderung des literarischen Übersetzens. Ein Standbein bilden dabei Seminare, Konferenzen und Forschungsprojekte, die an der Universität durchgeführt werden, darunter ein in der Schweiz einzigartiges Spezialisierungsprogramm für literarisches Übersetzen mit derzeit 33 Studierenden. Zehn Ausgangs- und Zielsprachen werden angeboten, jede Kombination und Richtung (macht insgesamt 90 Varianten!) ist möglich. Daneben organisiert das CTL in Zusammenarbeit mit diversen Partnern öffentliche Lesungen und Events in Lausanne und darüber hinaus. Es führt thematische Workshops für Übersetzerinnen und Übersetzer durch und veröffentlicht in eigenen Publikationsreihen literarische Übersetzungen sowie theoretische Texte zum Themenfeld. Zu den Absolvent/innen des CTL-Spezialisierungsprogramms gehören u.a. die Übersetzer/innen Camille Luscher (Max Frisch, Arno Camenisch, Eleonore Frey), Lionel Felchlin (Lukas Bärfuss, Friedrich Glauser, Peter von Matt) und Lydia Dimitrow (Natalie Chaix, Bruno Pellegrino, Isabelle Flükiger).
Das Übersetzerhaus Looren im zürcherischen Wernetshausen bietet bis zu elf Übersetzerinnen und Übersetzern gleichzeitig ein klassisches Residenzhaus – einen ruhigen Ort, an den sich literarische Übersetzer aller Sprachkombinationen zum intensiven Arbeiten an einem Buchprojekt zurückziehen können. Während für Schriftstellerinnen und Schriftsteller zahlreiche Residenzen angeboten werden, ist das 2005 auf Anregung der Journalistin und Übersetzerin Regula Renschler gegründete Haus schweizweit das einzige Angebot dieser Art, das sich an Übersetzende richtet. Darüber hinaus pflegt das Übersetzerhaus Looren in Europa und weltweit Partnerprojekte und verleiht zahlreiche Stipendien, vor allem für Übersetzungsvorhaben aus und in die Schweizerischen Landessprachen. Gemeinsam mit dem CTL Lausanne wurde 2017 ein Nachwuchsprogramm ins Leben gerufen, das Berufseinsteiger in Mentoraten und Blockseminaren mit Praxiswissen versorgt und Erstübersetzungen durch einen eigens eingerichteten Fonds fördert.