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Zum Ausschluss eines Absagers

Eine Erinnerung an Guido Bachmann in zwei Akten.

Zum Ausschluss eines Absagers
Guido Bachmann am 21. August 1978 mit seinem eben erschienenen Werk «Die Parabel», und darunter: «Gilgamesch». Photographiert von Kurt Wyss.

1.

«Ich bin kein Schweizer. […] Ich kann mich mit diesem Land nicht identifizieren.» – Mit diesen Worten beginnen die unter dem Titel «lebenslänglich» erschienenen Jugenderinnerungen von Guido Bachmann. Es ist eine Abrechnung mit seinem Vater wie mit der Schweiz. Verglichen mit Hermann Burgers Heimateuphorie, gemessen auch an Peter Bichsel oder Adolf Muschgs «kritischem Patriotismus», waren Bachmanns Sätze eine radikale Absage ans Prädikat «Schweizer Schriftsteller». Aber auch sonst passten Bachmanns massloses Leben und Werk nicht in den Kanon dessen, was sich «Schweizer Literatur» nannte und nennt. Pointiert liesse sich sagen, dass Guido Bachmann heute kaum mehr gelesen wird, weil er seinerzeit nicht in den Kanon der Schweizer Literatur aufgenommen wurde – weil er zu «unschweizerisch» war.

Die Fixierung eines literarischen Kanons gehört zur Identitätsbildung einer Nationalliteratur. Die ausgewählten Werke dienen indes nicht nur der (Selbst-)Verständigung, sondern auch der Werte- und Normbestätigung eines «Nationalcharakters». Darin spielen «Bescheidenheit» und der Hang zum «Kleinen» und zur «Selbstverkleinerung» eine nicht unwesentliche Rolle. All dem widersprach Bachmann. Ein zusätzliches Stigma war seine frei ausgelebte Homosexualität, über deren gesellschaftliche Ächtung einiges anhand der Rezeption seines Erstlings «Gilgamesch» (1967) zu erfahren war – und immer noch ist. Obwohl die homosexuelle Ausrichtung im Roman dezent ist, wurde das Erscheinen dieses Buches 1967 zum Skandal und das Buch als nicht jugendfrei eingestuft.

Guido Bachmann lebte intensiv und weitab der gängigen Muster; auch in seinem Werk war er Demiurg, Monster, Oger und grosser Mythologe zugleich. Kategorien wie Schuld oder Verantwortung waren ihm fremd; er kämpfte für die Reinheit der Schöpfung und war unerhört verletzlich, wenn es um die Reinheit seiner eigenen Schöpfung ging. Was zählte, waren die Kraft und Urtümlichkeit des Mythologischen. Adornos und Horkheimers Verdikt der Wiederkehr des Mythos war ihm weniger Gefahr denn Verlockung. Das Mythologische barg für Bachmann eine lockende Schattenzone und mehr Freiheit als die aufgeklärte Welt der Paragrafen.

Neben Paul Nizon mit seinem «Diskurs in der Enge» war Guido Bachmann der Autor, der rücksichtslos gegen helvetisches Sicherheitsdenken vorging und sein Leben an seinem Werk mass – weshalb er immer wieder unter Geldnöten litt. Bachmann definierte Herkunft nicht national, sondern gab seinen Figuren eine mythologische Matrize. Aufbau und Struktur seines Monumentalwerks, der über 2000 Seiten umfassenden Trilogie «Zeit und Ewigkeit», bildeten einen eigenen, autonomen Kosmos, in dem Figuren wiederkehrten und mit anderen, urzeitlichen identisch waren. Dabei verschränkte dieser ausufernde «Familienroman» Zeitliches und Zeitenthobenes mit Lokalem, Physikalischem, Literarischem und Musikalischem zu einem «Memory of the World» (der Begriff stammt aus «lebenslänglich»). Während Roland in «Gilgamesch» Bachmanns sexuelle und berufliche Selbstfindung beschreibt – er wird Pianist und Komponist –, setzt Claudio Reich, Schöpfer und gereiftes Alter Ego von Roland, als Tonsetzer diese Berufung in «Die Parabel» und in «Echnaton» fort. Die Kühnheit und Krassheit dieses das eigene Leben unentwegt verspiegelnden Werkes blendete das Leiden am Aussenseitertum nicht aus und war weit davon entfernt, esoterisches Glasperlenspiel zu sein. Der Autor erzählte die Geschichte seiner Heimatlosigkeit als Homosexueller indes nicht als individuelle «Leidensgeschichte», sondern als Selbstsuche und Selbstfindung in einem überzeitlichen Rahmen, legte die Koordinaten seines Schreibens nicht national, sondern global fest: «Übrigens schreibe ich nicht nur unschweizerische Bücher, sondern nichts über die Schweiz. Meine Bücher haben Geografie, aber deuten nicht auf meine Heimat und deuten diese infolgedessen nicht. […] Frisch kritisiert seine Heimat. […] Meine Heimat ist die Heimatlosigkeit, und nur dort finde ich mich. […] Wer auf seine Heimat Stolz hat, ist für mich ein Idiot. […] Heimat: die infamste Lüge.»

Gemeinsam mit Nizons Auszug nach Paris gehört Bachmanns Absage an die schweizerischen Kontexte zu den radikalsten Lebensentwürfen in der deutschschweizerischen Literatur. Somit stellt sich eine Frage: warum wurde Nizons in der Erzähltradition eines Robert Walser stehendes Werk vom Literaturbetrieb getragen, während Bachmann ein Solitär blieb, anschlussfähig allenfalls an den Expressionismus seines Vorbilds Hans Henny Jahnn, eines Céline, und in seiner krassen Sexualität näher bei den Filmen eines Pier Paolo Pasolini war als bei den tagebuchartig geschilderten Eheproblemen und beim Moralismus eines Max Frisch?

2.

Schon früh war ich anhand der Erzählung «Madeira» auf Bachmann gestossen. In diesem Stück autofiktionaler Prosa wird von einer Verwechslung berichtet, die den Protagonisten beim Verlassen des Flugzeugs in Funchal ereilt. Man hält ihn für einen Ölmagnaten und er lässt seine Umgebung, wie weiland Wenzel Strapinski in Gottfried Kellers «Kleider machen Leute», gern in diesem Glauben. Dieses Spiel der Identitäten entsprach meinem eigenen Status als Schweizer mit teilweise ausländischen Wurzeln. Was mich an Bachmann faszinierte: als Aussenseiter mit ausländischen Vorfahren beschrieb er die schweizerischen Ausschlussmechanismen mit Präzision – «mein Grossvater mütterlicherseits war eben ein katholischer Italiener spanisch-jüdischer Herkunft, der als Baumeister in die Schweiz eingewandert und hier Italiener geblieben ist, so dass Schulkinder […] meiner Mutter ‹Tschinggelemore, Dräck a dr Schnore› nachgerufen haben». Solche italienischen Arbeiter waren Nachbarn in dem Dorf, in dem ich aufwuchs. Ich kannte sie und fühlte mich ihrem Status als Aussenseiter nah.

Nicht zuletzt deswegen fühlte ich mich auch zu Bachmanns Schreiben hingezogen, weil bei ihm die Identitäten frei und ohne die Verankerung in einer geosozialen Herkunft gesetzt wurden. Bachmanns Selbstentwürfe waren mithin eine Auflehnung gegen die Zuschreibungen, mit denen man auch mich, der ich mich zum Schreiben anschickte, versah. Bachmanns unbedingtes Schreiben, damals einmalig in der Landschaft der Schweizer Literatur, inspirierte mich, den Neuzehnjährigen, und brachte mich auf Hans Henny Jahnns Roman «Perrudja», über den ich meine Abschlussarbeit an der Universität schrieb.

Persönlich lernte ich Guido Bachmann Ende der 60er Jahre im Haus meines damaligen Mentors, des Germanisten Christoph Siegrist in Basel, kennen. Bachmann war ein Mann im eigelben Anzug, glatzköpfig; schwitzend sass er am Piano und griff schwer atmend in die Tasten. In der Pause sagte er, er habe gerade einen kosmischen Sonettenkranz beendet. Er liess sich Zeit, erklärte mir, dem Schüler, das kosmische Regelwerk des Gedichtbandes, seine Bezüge, seine Verstrickungen, seine Subtexte. Er sagte: «Meine Geschichte ist die Geschichte des Universums.» Was er auch noch sagte: «Wenn ich meine Trilogie ‹Zeit und Ewigkeit› beendet habe, bringe ich mich um. Zunächst aber ziehe ich mich in ein Kloster zurück, um zu fasten und mit Trinken und Rauchen aufzuhören.» – «Rituelle Reinigung», «das Leben abbrechen», «ein neues Leben beginnen»: diese Worte und Wendungen wiederholte er nach jedem fertiggestellten Buch.

Unser gemeinsames Essen zog sich bis in die späte Nacht hin, Bachmann rauchte eine ganze Packung Players Two, trank Unmengen von Wein, Whiskey und Cognac und deklamierte auswendig aus den Briefen Freuds und Nietzsches. Kosmische Bezüge faszinierten ihn gleichermassen wie das Innerste des Menschen. Als ich näher mit ihm bekannt wurde, erfuhr ich, dass er auch im Verhalten Grenzen überschritt, im Restaurant Kunsthalle handgreiflichen Auseinandersetzungen nicht auswich und immer wieder Skandale hervorrief. Zivilisiertheit, Benehmen, Höflichkeit – für ihn bedeutete das nichts als dekadente Oberfläche. Im Mythologischen war ihm mehr Wahrheit. Bachmanns antibourgeoises Verhalten und sein normensprengendes Werk liessen diesen Autor durch alle Maschen des schweizerischen Literaturgedächtnisses fallen. In Erinnerung geblieben ist er nur einer begrenzten, mehrheitlich homosexuellen Leserschaft. Sein Ausschluss macht die Schweizer Literatur ärmer.


Martin R. Dean
ist Schriftsteller und Essayist. Letzte Veröffentlichungen: «Falsches Quartett» (Jung & Jung, 2014); «Verbeugung vor Spiegeln» (ebenda, 2015). Dean lebt in Basel.

 

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