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Traduttore creatore
Camille Luscher, photographiert von Amélie Blanc.

Traduttore creatore

Übersetzer sind Schriftsteller: Autoren ihrer Übersetzung. Und doch fehlen sie meist auf dem Cover. Zeit, dass sich das ändert.

«Weder treu ergebener Geliebter noch strebsamer Bauchredner, hat der Übersetzer nicht die Kühnheit eines Verräters noch den Diensteifer eines Kopisten – hingegen hat er, wenn er dem Text die Gerechtigkeit, den Glanz und den Widerhall geben will, den dieser verlangt, keine andere Wahl, als, zumindest ein Buch lang, Schriftsteller zu werden. Schriftsteller seiner Übersetzung.» Claro, Le clavier cannibale.1

Das ist ja Wahnsinn, was Sie da gemacht haben, das ist ja weit mehr als eine Übersetzung, das ist eine Neuschöpfung!» Das Kompliment kommt von Herzen, und es berührt mich, zeigt es doch Freude über meine Arbeit. Andererseits ist es auch ein gutes Beispiel für ein häufiges Missverständnis, was das Übersetzen betrifft. Und so möchte ich entgegnen: «Im Gegenteil, genau das tue ich: Übersetzen, also Wieder-Schöpfen!» Sicher, bei einigen Texten, die ich übersetzt habe, ist dieser Vorgang sichtbarer als bei anderen, weil ihre Autoren – zum Beispiel Arno Camenisch, Hugo Ball oder Eleonore Frey – mit der Sprache spielen und die Worte, die ich finden muss, um sie gut zu übersetzen, einem nicht gerade aus dem Wörterbuch Französisch–Deutsch entgegenspringen (als ob das jemals der Fall wäre!). Paradoxerweise ist die Übersetzung bei «unübersetzbaren» Texten am sichtbarsten.

Literarisches Übersetzen besteht im doppelten Wortsinn darin, die künstlerische Handschrift des Schriftstellers nachzuempfinden. Ich lese einen Text, gewinne ihn lieb, und dann versuche ich, zu verstehen, was er sagt, und mehr noch: was er mit der Sprache macht. Um das dann auf Französisch genauso zu tun. Auf die oft gestellte Frage «Und schreiben Sie auch selbst?» antworte ich deshalb: Aber ja, die ganze Zeit! Ich schreibe meine Übersetzungen, gebe in einer anderen Sprache wieder, was ich so gut gesagt, so gut gemacht finde, aber auch, was mich stutzig macht, mich irritiert. Man mag entgegnen, der Inhalt sei mir doch vorgegeben, ich «erfinde» nichts und könne mich ganz auf Sprache und Form konzentrieren. Aber kann man Form und Inhalt wirklich trennen? Ich suche Wörter, um die Bilder hervorzurufen, die vor meinen Augen vorbeiziehen, und einen stimmigen Rhythmus, die passende Melodie, um die Gefühle zu übertragen, die ich empfinde. Übersetzen ist Schreiben, bloss mit Vorgaben. Meine Übersetzungen habe ich geschrieben, ich habe all die Wörter ausgesucht, aus denen sie bestehen, und bin dafür verantwortlich, gegenüber dem Werk, gegenüber der Autorin, gegenüber der frankophonen Leserschaft. Die Leser, die Eleonore Frey auf Französisch entdecken, vertrauen mir, dass sie nicht nur zu lesen bekommen, was Frey schreibt, sondern auch, wie sie schreibt, eben: was sie mit der Sprache macht. Und sie haben recht: So nah wie möglich am Originaltext zu sein, die perfekte Entsprechung anzustreben, auch wenn sie nie ganz zu erreichen ist, ist mein Anspruch als Übersetzerin.

«Übersetzen ist Schreiben, bloss mit Vorgaben.»

Wer sich etwas mit Sprachen auseinandergesetzt hat, weiss, dass man diese Entsprechung nicht über das Nachahmen von Strukturen erreichen kann. Schon in einer Sprache gibt es keine perfekten Synonyme; zwischen zwei Sprachen erst recht nicht. Zum Glück übersetzen Übersetzer aber nicht Wörter, sondern Sätze, Texte, und ihre Tätigkeit besteht gerade darin, quasi dasselbe mit anderen Worten zu sagen, wie Umberto Eco es ausdrückt. Diese Mittel unter vielen Möglichkeiten zu finden, ist die unverzichtbare Kreativität des Übersetzers. Man könnte noch weiter gehen und daran erinnern, dass schon das Original nicht eindeutig ist: es lässt mehrere Lesarten zu. Vielleicht so viele, wie ein Buch Leser hat. Diesem «beweglichen» Original gegenüber bemüht sich der Übersetzer, sich als fortgeschrittener Leser zu präsentieren: engagiert, verantwortungsbewusst und deshalb gewissenhaft, akribisch. Ein kollektiver Leser auch (soweit das möglich ist), der versucht, den Originaltext so ganzheitlich wie möglich zu lesen.

Selbst wenn er also über Superkräfte und grosses Einfühlungsvermögen verfügen muss, bleibt der Übersetzer auch ein Mensch, mit seiner Biographie, seinem Empfinden und seiner Sprache. Ich kann mich nicht tilgen, nie ganz. Das ist in gewisser Hinsicht eine beunruhigende Vorstellung. Ist es nicht erschreckend, dass die grossen Schriftsteller, die man bewundert – Dostojewski oder Shakespeare zum Beispiel –, in Wirklichkeit kein einziges Wort des Buches geschrieben haben, das man auf Deutsch gelesen hat, sondern mal mehr, mal weniger unbekannte Autoren: Swetlana Geier, Christa Schuenke, Frank Günther, …? Und auf diese (fast) Unbekannten, deren Namen selten auf dem Buchcover und nur wenig häufiger auf der Rückseite zu lesen sind, verlässt man sich ganz? Würde der Leser nicht dadurch gewinnen, sie zu kennen, zu hören und zu sehen? Täte sich ihm dadurch nicht ein geradezu unendlicher, schwindelerregender Reichtum auf?

Ein Stück weit können wir diesen Reichtum anhand mehrfach übersetzter Klassiker erahnen – zum Beispiel bei Romain Garys Prix-Goncourt-gekröntem Roman «La vie devant soi», den wir nicht nur in einer, sondern gleich in zwei deutschen Übersetzungen lesen und geniessen können: «Du hast das Leben noch vor Dir», übersetzt von Eugen Hemlé (Fischer, 1977), und «Du hast das Leben vor Dir», übersetzt von Christoph Roeber (Rotpunkt, 2017). So beginnt das Buch…

… bei Romain Gary:

La première chose que je peux vous dire c’est qu’on habitait au sixième à pied et que pour Madame Rosa avec tous ces kilos qu’elle portait sur elle et seulement deux jambes, c’était une vraie source de vie quotidienne, avec tous les soucis et les peines.

… bei Eugen Hemlé :

Ich kann Ihnen gleich schon als erstes sagen, dass wir zu Fuss im sechsten Stock gewohnt haben und dass das für Madame Rosa bei all den Kilos, die sie mit sich rumschleppte, und nur zwei Beinen ein richtiger Grund für ein Alltagsleben war, mit allen Sorgen und Mühen.

… Christoph Roeber:

Als Allererstes kann ich Ihnen sagen, dass wir immer sechs Treppen rauf mussten, und zwar zu Fuss, und für Madame Rosa mit ihren ganzen Kilos und nur zwei Beinen fing da der Alltag mit Kummer und Sorgen schon an.

Keine der zwei deutschen Versionen deckt sich ganz mit dem Original. Beiden fehlt ein kleines bisschen etwas davon, aber: beide fügen ihm dafür ihre Eigenheiten hinzu (ihre Eigenkreatio­nen!): Eigenheiten der anderen Sprache, aber auch der anderen Autoren. Welch’ Vielfalt, welch’ Freude! In der klassischen Musik, wo eine Partitur ja ebenfalls je nach Interpret anders klingt, ist diese Vielfalt offengelegt: Wer Bach hören möchte, kann eine Bach-Aufnahme kaufen, ohne sich um die Namen auf dem Booklet zu scheren. Wer ein feines Gehör hat, kann sie sich aber auch nach seinem Lieblingsinterpreten aussuchen – und so gewissermassen beide Namen zusammenbringen: Ich entscheide mich für diesen Bach, weil ich weiss, dass Glenn Gould ihn so interpretiert, wie ich es mag. Genauso spielen Übersetzer ihr Instrument, die Sprache, anders als ihre Kollegen – aber auch anders als «ihr» Autor: Du liest nicht Philippe Jaccottet, sondern Jaccottet durch Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Und nein, das ist kein Verlust und keine Notlösung, sondern ein Glück, denn die beiden ermöglichen es dir, Jaccottet in deiner Sprache zu lesen, und damit, ihn so nahe wie möglich an dir zu spüren. Und noch mehr: Denn Philippe Jaccottet auf Deutsch, das sind Gedichte, die so niemals existiert hätten, wenn sie ein nördlich des Rheins geborener Jaccottet gleich auf Deutsch geschrieben hätte. Übersetzungen setzen die Beziehungen zwischen verschiedenen Ausdrucksformen und Kulturen frei: Das Deutsche der Übersetzung, in Bewegung gesetzt durch das Französische des Originals, versetzt dieses in der Konfrontation seinerseits wieder in Schwingung.

Ein Übersetzer weiss, dass er ohne den Originalautor nicht gebraucht würde, und er möchte diesen auch nicht missen – sonst würde er ja «eigene Texte» schreiben. Was Übersetzer antreibt, ist die Leidenschaft fürs Lesen – ein penibel genaues Lesen! –, fürs Ein- und Untertauchen im Text, dafür, sich eine Stimme auszuleihen und seine ganze Schaffenskraft in den Dienst des Textes zu stellen, die Sprache als Rohstoff be- und verarbeitend. Das braucht Zeit, Geduld und Raum, und es ist im Interesse aller Leser und aller Glieder in der Bücherkette, wenn diese Bedingungen erfüllt sind. Das bedeutet zuallererst, Übersetzer als Künstler anzuerkennen. Sie sind Urheber2 – ein Status, den sie rechtlich längst haben, der aber von Literaturkritikern, Moderatoren und manchmal selbst den Verlegern noch allzu oft vergessen wird. Geben wir ihnen die Sichtbarkeit, die ihnen gebührt: Der Name der Übersetzerin, des Übersetzers gehört in die Rezension, in die Anmoderation – und aufs Cover. Name the translator!

Die Überschrift «Traduttore creatore» stammt vom Ansteckpin eines schwedischen Verlegers an den Solothurner Literaturtagen 2018. (Den Pin will ich auch!)

  1. Claro: Le clavier cannibale. Paris: Inculte essai, 2009, S. 185. Übersetzung des Zitats: Stephan Bader.

  2. Die französische Übersetzung von «Urheber» lautet «auteur»…

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