Ilma Rakusa:
«Aufgerissene Blicke»
Ein «Unterwegskind» nennt sich Ilma Rakusa in ihren Erinnerungspassagen Mehr Meer. Denn von allem Anfang an war es die Konstante in ihrem Leben, an einem Wohnort anzukommen, um wieder wegzugehen. So zog sie mit ihren Eltern – dem Vater, einem Slowenen, und der Mutter, einer Ungarin – schon bald von Rimaszombat (Ungarn) / Rimavska Sobota (heute Slowakei), wo sie 1946 zur Welt gekommen war, nach Budapest, dann nach Ljubljana, nach Triest und 1951 nach Zürich. Da lebt sie heute noch. Wenn sie nicht unterwegs ist… Also wenn sie nicht, wie von Oktober 2010 bis Juli 2011, andernorts zu Hause ist. Zum Beispiel, auf Einladung des Wissenschaftskollegs, in der Stadt, die sie immer angesprochen hat, einer Stadt voller Widersprüche: in Berlin.
Es ist vor allem der Scharniercharakter zwischen Ost und West, der Ilma Rakusa diese Stadt lieben lässt, und der «Braunkohlegeruch» in manchen Strassen, der an die Ljubljaner Kindheit erinnert. Und da ist aber auch die stete Provokation des Orts, seine nervöse Vitalität und Aggressivität – Glanz und Elend in einem –, die an Körper und Seele zerren, die beunruhigen, die besänftigen, die auch wehtun – und berühren. Denn auch Berlin scheint ständig unterwegs zu sein, «unterwegs zu sich selbst», ständig im Umbruch, die Zukunft im Blick, das grosse Ganze im Visier.
In ihrem «Berlin-Journal» findet alles zusammen, was (frei nach Wittgenstein) der Fall ist. Ilma Rakusa trifft sich mit Künstlern aus der ganzen Welt, hört Erlebnisberichten zu aus Japan, Russland, Ägypten, der Türkei, dem Iran, dem Libanon… Sie besucht Galerien, Museen, ist in Theatern, im Kino, im Konzert – und begeistert sich vor dem Fernseher in einer Kneipe für das Finale der Frauen-Fussballweltmeisterschaft. Und wenn sie nach Hause kommt, muss sie sich nochmals schnell die Füsse vertreten und ist gleich wieder mitten drin im «Irrwitz» dieser Grossstadt. Was sich ausserhalb zuträgt, drängt sich grell und schnell in diesen aufgeladenen Unruhezustand. Erst als Name, als Ort oder Ereignis – Osama bin Laden, Breivik, Mladic, Fukushima, arabische Revolution –, dann bohrend, verstörend, belastend. «Abstumpfung ist keine Option», notiert sie. Und doch: «Das im Laufe eines einzigen Tages Aufgeschnappte (Gesehene) ist von überwältigender (bedrückender) Fülle.»
Doch jäh entsteht eine Insel der Stille, des Friedens: Die lichtdurchflutete Oranienburger Strasse ruft das Licht von Petersburg ins Gedächtnis und Puschkins goldenen Herbst. So steht sie einfach da und wartet – auf nichts. Dann notiert sie: «Genug Berührung. Glück.» Dann ist sie ganz Lyrikerin, die sie ja auch (vor allem?) ist. Und wenn sie sieht, dass die Springbrunnen wieder in Betrieb sind, dass «Leben in die kalten Schalen zurückgekehrt» ist, oder wenn sie aus dem Nichts eine «Grunewalder Nachtigall» singen hört, mitten hinein ins Berliner Endlos-Pulsieren – dann sind es vor allem die Augen und Ohren der Dichterin, die im Spiel sind.
«Jede Aufzählung sinnt auf das Ganze», sagte Ilma Rakusa in ihren Grazer Poetikvorlesungen. Ihr «Berlin-Journal» ist eine solche «Aufzählung», ist eine Bestandsaufnahme und macht haltbar, was vorhanden ist, in Berlin, in der Welt, im eigenen Leben. So ist ihr neues Buch viel mehr als nur ein Journal. Die während des Aufenthalts gesammelten Erfahrungen, Eindrücke und Geschehnisse bezeugen ein immenses Inventar weit über die Stadt hinaus. Und wenn das Unterwegssein an manchen Stellen zur Ruhe kommt, wenn etwa die Autorin das «Jetzt» beschwört als Kipppunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft und sich daran erinnert, als Kind «Jetzt!» gerufen und dem Echo nachhörend gewusst zu haben, dass jetzt vorbei ist – dann scheint das «Ganze» nähergerückt. Mindestens so nahe wie nur menschenmöglich.
Ilma Rakusa: Aufgerissene Blicke. Graz: Droschl, 2013.