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Verschwende deine Jugend!

Diese Jugend!

Verschwende deine Jugend!
Stefanie Sourlier, photographiert von Ayse Yavas.

«Bedenken Sie bei der Annäherung an die Jugend, dass jüngere Menschen verschiedene Aspekte Ihres gealterten Alltags nicht gut nachvollziehen können: Ihre Kniegelenks-arthrose zum Beispiel, die sehr lange Zeit, die es nun dauert, einen Alkoholkater zu überwinden, oder die Tatsache, dass Sie selbst doch eben noch 20 waren und sich überhaupt wahnsinnig jung fühlen, vom Knie mal abgesehen.» – Kathrin Passig und Ira Strübel

An einem Sonntagabend sitzen wir in einer Kneipe in Berlin, unter einem Deckengemälde, das der Sixtinischen Kapelle alle Ehre machen würde. An dieser Kneipe scheint die Zeit spurlos vorübergegangen zu sein, hier ist Kreuzberg noch wie vor fünfzehn Jahren, nur dass die Gäste auch mindestens fünfzehn Jahre gealtert sind, während sie sich leicht ergraut und sanftmütig der Bier-Hausmarke hingeben und noch immer nicht an die Kopfschmerzen von morgen denken. Lili, die etwas neurotischer ist als ich und nur Ginger Ale trinkt, glaubt, sie habe eventuell eine Glasscherbe, die auf dem Tresen lag, mit dem Fingernagel weggeschippt, und diese sei nun womöglich in den sich gleich darunter befindlichen Eiskübel gefallen; jetzt macht sie sich Sorgen, dass die nächsten Gäste sich daran die Kehle von innen her aufschneiden könnten, es ist ihr aber trotzdem zu peinlich, dies auch dem Barkeeper mitzuteilen.

Ich trinke meinen Singapore Sling, der eher ein Kreuzberg Sling ist, mit viel zu viel Cherry Brandy und Ginger Ale gehört hier auch nicht unbedingt hinein, bei jedem Eisstück glaube ich, die Glasscherbe auf der Zunge zu spüren, gleichzeitig beruhige ich Lili, zähle Hunderte von Gläsern auf, die mir schon in der Bar zerbrochen sind – unvorstellbar all dieses Glück und all diese zerschnittenen Zungen. Wir reden über den Niedergang Kreuzbergs und über die Jugend, die draussen vorbeirennt. Mir fällt die Hymne auf die Jugend ein, die der mit 61 Jahren jugendlichste Schriftsteller Rainald, von dem gesungen mir sogar die einfältigen Zeilen der Wiener Jungmänner-Rockband «Wanda» mehrdeutig und weise erscheinen, in seiner Büchner-Preis-Rede anrief. «Wie wollen wir leben? Irr, fanatisch, destruktiv, schreit die Schrift, böse, ideal und realistisch kaputt.» Alle ziehen aufs Land, sagt Lili. Nicht nur die Bio-Mütter, die bereits in der Stadt mit der Handspindel auf dem Spielplatz spinnen. Ihr Freund, sagt sie, hat eine Dozentenstelle an einer Provinzuniversität bekommen, eigentlich super, wenn nur die Studierenden nicht wären, über diese Jugend müsse man sich keine Sorgen machen, sie arbeiten zielgerichtet ihren Lebenslauf durch, fänden Karl Kraus schon etwas gar negativ und würden auf die Frage nach den Merkmalen einer vernunftgesteuerten Welt «strengere Fischereikontingente» vorschlagen.

Die jungen Leute kenne ich aus meiner Bar in Zürich. Sie verdienen gut und lassen mich manchmal bei der Berufswahl vermehrt an den nahenden Bandscheibenvorfall denken. Einmal fragte mich einer dieser pickeligen, nach Mutters Waschmittel riechenden Wonneproppen, bei denen ich jeweils neunziger Jahrgänge durchrechne und den ich aber nur freundlich darauf hinwies, dass er sein Bier nicht draussen trinken dürfe, weil es in jener seltsamen Stadt ein Gesetz gibt, das den Menschen verbietet, nachts vor einer Bar mit einem Glas in der Hand zu stehen, weshalb ich denn diesen Scheissjob machen müsse – und, klar, «was ich denn sonst noch so mache». Dies alles halbwegs flirtend. Ich hätte seine Mutter sein können, sage ich unter der Madonna der sixtinischen Kapelle Kreuzbergs. Sie werden die Welt regieren, meint Lili trocken, da bin ich mir sicher. Aber es ist nicht so, dass ich sie dafür beneide.

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