Versucht einmal, Lyrik zu lesen!
Ihr werdet merken, dass sie von euch spricht
Es ist kein leichtes Unterfangen, klar und kurz in Worte zu fassen, «was Lyrik ist». Es ist nicht leicht, oder vielleicht ist es nicht einmal möglich und auch nicht wirklich erstrebenswert: Ich habe den Eindruck, dass eine Sache an Lebenskraft verliert, wenn sie allzu genau definiert ist, als ob die Definition sie neutralisieren, lähmen würde. Ich werde es also nicht versuchen. Dafür kann ich aber erzählen, wann und wie ich angefangen habe, Gedichte zu lesen, sie verstehen zu wollen und sogar selbst welche zu schreiben. Und wer weiss, vielleicht steckt in dieser sehr persönlichen Erzählung auch der Kern einer allgemeineren Antwort. Dazu muss ich beinahe vierzig Jahre in der Zeit zurückgehen: Heute bin ich fünfundfünfzig, den ersten Gedichtband habe ich wohl mit fünfzehn oder sechzehn gelesen. In einem Prosastück schreibt der grossartige französischsprachige Lyriker Philippe Jaccottet, mit dem ich mich lange beschäftigt habe, dass Leidenschaft für Lyrik sehr oft in der Jugend entstehe, wenn es in der Erfahrung eines jeden von uns zu einem gigantischen Ereignis komme, zu einer Art plötzlichem, irreparablem Bruch. Der zur Folge habe, dass die Welt, die wir bisher kannten, uns nun anders, geheimnisvoll vorkomme. Bisweilen geschehe das durch ein Zuviel an Lieblichkeit, sagt Jaccottet, öfter aber durch ein Zuviel an Schrecken. Immer durch ein Zuviel.
Wie gesagt war ich etwa fünfzehn, ich begriff natürlich überhaupt nicht, was mit mir geschah, und das, was ich jetzt zu erzählen versuche, ist mir erst sehr viel später einigermassen klar geworden. Genauer gesagt: an einem Morgen vor etwa zehn Jahren, als ich aufwachte (ich war in Südfrankreich am Meer) und mir plötzlich auffiel, dass zwei Ereignisse, die meine Jugend geprägt haben und mit denen meine Leidenschaft für die Lyrik angefangen hat, beinahe gleichzeitig stattgefunden haben. Das hatte ich mir noch nie überlegt, und ebenso wenig, dass ich genau damals den verrücktesten und faszinierendsten Dichter zu lesen begann, auf den ich stossen konnte: Dylan Thomas.
Das erste dieser beiden Ereignisse hat mit meiner Familie zu tun. Ich lebte bei meinen Eltern und schlief im gleichen Zimmer wie meine Schwester. Direkt vor meinem Bett war die Zimmertür zum kleinen Flur, es war eine dieser alten Türen mit Mattglasscheibe, und so konnte ich morgens vom Bett aus die Schatten meiner Eltern sehen: meine Mutter, die Richtung Küche ging, um Kaffee zu kochen, mein Vater auf dem Weg von seinem Zimmer Richtung Bad. Doch eines Morgens war das Schattenballett anders als sonst, ausserdem kam die immer besorgtere Stimme meiner Mutter hinzu, sie rief nach meinem Vater, der sich (wie es seiner Gewohnheit entsprach) offensichtlich im Bad eingeschlossen hatte. Ich stand auf und wusste schon, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Mein Vater antwortete nicht, durch das Türschloss sah ich einen Teil seines Körpers auf dem Boden, rücklings. Ich hätte wie in einer Filmszene die Tür aufbrechen müssen, aber dazu war ich zu mager und zu schwach, erst ein kurz darauf herbeigeeilter Nachbar öffnete sie dann mit einem Fusstritt. Mein Vater lag am Boden, bewusstlos, mit verrutschtem Pyjama. Das war der Anfang einer Odyssee durch Krankenhäuser, Wartezimmer und weitere Krankenhäuser, denn mein Vater hatte eine schlimme Krankheit, einen Tumor im Kopf, der eine ganze Reihe noch schlimmerer Folgen mit sich bringen würde, um die es jetzt aber nicht gehen soll. Jedenfalls sind dieser Morgen, diese abgeschlossene Tür für mich das sichtbare Zeichen einer tiefen Veränderung: Nichts würde für uns mehr so sein wie früher, materiell nicht und vor allem in der inneren, tieferen Dimension nicht. Etwas war zerbrochen, plötzlich war die Sicherheit der Welt, meiner Welt, in die Brüche gegangen. Und ich brachte darüber kein Wort heraus. Einige Zeit später war ich mit meinem Mofa auf dem Nachhauseweg, ich hatte meinen Vater im Krankenhaus besucht, und unterwegs war mir die Kette rausgesprungen, so dass ich sie wieder hatte aufziehen müssen und meine Hände ölverschmiert waren. Mein Mofa war, wie man so sagt, frisiert, manche Bauteile waren verändert, damit es schneller fuhr. An diesem Tag schöpfte ein Polizist Verdacht (auch weil ich wie ein Depp mit einem Easy-Rider-Lenker und einer überlangen Rückenlehne herumkurvte) und nahm mich mit aufs Revier, ich war ganz eingeschüchtert, man behielt mich ein paar Stunden da, verhörte mich, nahm mein armes Mofa auseinander und entdeckte alle möglichen illegalen Dinge. Die Geschichte ist mir erst vor zwei, drei Jahren wieder eingefallen, als es einer Freundin schlecht ging und sie den Ausdruck «mir ist die Kette rausgesprungen» benutzte, womit sie mir die Szene wieder ins Gedächtnis rief: Wie ich Angst hatte, wie ich spürte, dass die Polizisten technisch zwar recht hatten, aber dennoch dabei waren, ihre Macht zu missbrauchen. Und wie ich das einzige nicht sagte, was sie vielleicht dazu bewogen hätte, mich früher gehen lassen. Ich habe nicht gesagt: «Entschuldigen Sie, ich komme aus dem Krankenhaus, mein Vater liegt im Sterben.» Ich habe es nicht gesagt, weil ich es nicht konnte, und vielleicht auch, weil ich es ihnen nicht sagen wollte.
Das andere Ereignis war, dass es in meiner Klasse ein schönes, intelligentes und reiches Mädchen gab, in das ich (wie alle meine Mitschüler) hoffnungslos verliebt war. Natürlich nahm sie mich nicht einmal wahr. Ich schmachtete. Der Draufgängerischste von uns, der sich später, wie so oft, als der grösste Schuft erwies, erzählte uns eines Tages, dass er sie geküsst habe, und stürzte mich damit in Verzweiflung. Doch dann wurde dieses wunderbare Mädchen sehr bald von einem Schatten, etwas Düsterem durchzogen. Sie magerte ab, irgendwann war sie dünn wie ein Skelett. Der Ausdruck Anorexie war damals noch nicht so verbreitet, aber genau das war es (was uns natürlich niemand erklärte). Daraufhin erfand der Draufgängerischste von uns ein Spiel: Weil das abgemagerte Mädchen einer Freundin erzählt hatte, sie esse nur noch einen Pudding täglich, sollten wir jeden Tag einen Beutel Puddingpulver in die Schule mitbringen und es ihr über das Haar schütten, über dieses Haar, das ich monatelang zwischen den Schulbänken betrachtet hatte und das jetzt matter und rauher war. Und dazu mussten wir lachen. Habe auch ich Puddingpulver mitgebracht? Es ihr auf den Kopf geschüttet? Gelacht? Nein, ich glaube nicht. Aber eine Zeitlang habe ich mich auch nicht widersetzt, bin ich mit gesenktem Kopf der Herde meiner Mitschüler gefolgt, vielleicht unnütz ein paar Blicke in ihre Richtung werfend. Bis ich es irgendwann nicht mehr aushielt. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, weder zu ihr noch zu meinen Freunden, noch mir selbst. Nichts von alldem, was ich gelernt hatte, keine Sprache vermochte das, was in mir vorging, auszudrücken. Ich war stumm, wie damals bei der Geschichte mit meinem Vater. Ich redete, auf den ersten Blick war ich immer noch ich. Aber in mir drin fühlte ich mich wie aus Eis.
Und genau zu diesem Zeitpunkt hörte ich am Radio ein Interview mit Bob Dylan, den ich verehrte. Wie ich entdeckte, war sein Name ein Pseudonym, das er zu Ehren eines jung gestorbenen, vom Alkohol zugrunde gerichteten walisischen Dichters namens Dylan Thomas gewählt hatte. Deshalb besorgte ich mir Dylan Thomas’ Gedichte, damals erhältlich in einer Ausgabe von Oscar Mondadori, übersetzt von Ariodante Marianni (mit dem ich viele Jahre später einen kurzen Briefwechsel führen würde). Wie viel ich mit fünfzehn von diesen sonderbaren, visionären Gedichten verstehen konnte, weiss ich nicht. Je nach Auffassung vielleicht nichts, vielleicht fast alles. Aber an eines erinnere ich mich genau: Beim Lesen mancher dieser Gedichte (besonders «The Conversation of Prayer», das ich immer noch auswendig kann) hatte ich den Eindruck, darin genau die Sprache und Stimme vorzufinden, die meine innere Erfahrung auszudrücken vermochte. In dieser Art, mit Worten umzugehen, war das Unglück enthalten, das meinen Vater getroffen hatte, meine Verwirrung und die Schönheit eines ins Dunkel abgleitenden Mädchens, die Lieblichkeit und der Schrecken, die mir den Atem verschlugen. Und ein bisschen steckten in diesen Worten eines betrunkenen Dichters, in seinen «sterngebärdigen Kindern», auch ich selbst und meine Freunde, die nie etwas lasen. Alles, was zählte, war da, alles durfte auf ein bisschen Sinn, ein bisschen Erbarmen und ein bisschen Schönheit hoffen.
So hat es bei mir angefangen. Und eigentlich fasziniert mich Lyrik immer noch aus den gleichen Gründen wie damals. Auch jetzt, da ich in der Schule Literatur unterrichte, ab und zu einen Gedichtband veröffentliche und mich gewissermassen als Experten betrachten müsste, ist für mich die letzte Wahrheit immer noch das, was ich vor über vierzig Jahren intuitiv erfasst habe, und in meinen Augen ist es die einzige Wahrheit, die wirklich etwas gilt; nur dank ihr kann ich, ohne das Gefühl zu haben, sie anzuschwindeln, zu meinen Schülern sagen: «Versucht einmal, Lyrik zu lesen! Ihr werdet merken, dass sie von euch spricht.»
Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Sauser.
Der vorliegende Text ist die exklusive Übersetzung von «Prova a leggere la poesia. Vedrai che parla di te» (In: Quando Chiasso era in Irlanda – e altre avventure tra libri e realtà. Bellinzona: Casagrande, 2012).